„West Side Story“ in Schwäbisch Hall (Foto: Ufuk Arslan)
  by

Getanzter Zwiespalt: „West Side Story“ in Schwäbisch Hall

Die Treppe der Freilichtspiele Schwäbisch Hall wird zur Arena eines kulturellen Konflikts, zum architektonischen Spiegel einer zerrissenen Gesellschaft: Das Musical „West Side Story“ von Leonard Bernstein (Musik), Arthur Laurents (Buch) und Stephen Sondheim (Songtexte) entfaltet sich unter freiem Himmel mit Wucht und Pathos – und lässt die Stufen erbeben. Die berühmte Liebestragödie zwischen Tony und Maria erhält durch das eindrucksvolle Freiluftsetting eine zusätzliche Fallhöhe: Wo sonst Bürgerinnen und Bürger flanieren, tanzt nun der soziale Abgrund.

Regisseur Christian Doll inszeniert den Bernstein-Klassiker mit solider Hand, ohne dabei große Risiken einzugehen. Seine Regie ist handwerklich sauber, dramaturgisch stringent, sie führt sicher durch das bekannte Terrain, ohne neue Deutungsräume aufzureißen. Überraschungen bleiben aus, dafür überzeugt die Inszenierung mit rhythmischer Präzision und einem Gespür für Tempo. Der Fokus liegt auf der emotionalen Geschichte, weniger auf deren sozialkritischer Tiefenschärfe.

Choreografin Kati Farkas jedoch gelingt es, dem steinernen Bühnenbild tänzerisches Leben zu verleihen. Sie nutzt die monumentale Treppe nicht als Hürde, sondern als Bewegungsimpuls – ihre Choreografie wächst aus der Bewegung. Die Sharks tanzen mit leidenschaftlicher Glut, während sich die Jets in kantiger Aggression verausgaben. Jeder Schritt ist hier ein Ausdruck von Herkunft, Abgrenzung, Überlebenswillen – ein getanzter Zwiespalt.

Fabian Lüdickes Bühne beschränkt sich klugerweise auf ein starkes Symbol: Auf der steinernen Fläche liegt eine zerborstene Freiheitsstatue, als hätte der Traum von Amerika hier bereits aufgegeben. Die allegorische Wucht dieses Bilds spricht für sich – und gegen den naiven Glauben an Chancengleichheit. Es ist ein bitteres, stilles Statement mitten im Trubel des musikalischen Spektakels.

Kati Kolbs Kostüme kleiden die Darstellerinnen und Darsteller in stimmige, stilvolle Outfits, die der Zeit der Fünfzigerjahre treu bleiben und dennoch durch moderne Akzente frisch wirken. Ihre Kostümarbeit trägt unauffällig, aber wirkungsvoll zur Authentizität der Inszenierung bei. Auch musikalisch bleibt die Produktion auf überzeugendem Niveau: Heiko Lippmann leitet das Orchester mit sicherer Hand, es entsteht ein kräftiger, vielschichtiger Klangkörper, der der Partitur vollends gerecht wird.

In der Hauptrolle überzeugt Julian Culemann als Tony mit sicherer Stimme und glaubwürdigem Spiel, auch wenn ihm in den emotionalen Extremen etwas die Tiefe fehlt. Katia Bischoff als Maria hingegen begeistert mit vokaler Brillanz und einer fein nuancierten Darstellung, die von berührender Zartheit bis zu aufgewühlter Verzweiflung reicht – sie ist der emotionale Mittelpunkt der Aufführung. Simon Staiger verleiht Riff eine starke Präsenz, während Malcolm Henry als Bernardo mit intensiver Energie aufwartet. Besonders Amani Robinson als Anita begeistert durch mitreißendes Schauspiel – sie balanciert mit beeindruckender Glaubhaftigkeit zwischen Stolz, Wut und Trauer.

Auch in den Nebenrollen finden sich bemerkenswerte Leistungen: Oliver Aagaard-Williams gibt einen differenzierten, emotional nachvollziehbaren Chino, Mirjam-Magdalena Wershofen zeigt als Anybody’s viel Herz und Temperament, und Andrea Matthias Pagani bringt als Doc jene ruhige Autorität mit, die dem Chaos zumindest kurzzeitig Struktur verleiht.

Am Ende bleibt eine „West Side Story“, die vor allem in ihrem Zusammenspiel aus Choreografie, Bühne und darstellerischer Leistung überzeugt. Es ist keine revolutionäre Neuinterpretation, aber ein visuell starkes, musikalisch kraftvolles und insgesamt berührendes Freilichterlebnis. Und vielleicht ist es gerade dieser unverstellte Blick auf das Original (in der deutschen Fassung von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald), der den Abend so sehenswert macht.

Text: Christoph Doerner

Avatar-Foto

Nach seinem Studium der Musiktheaterwissenschaft, einem Volontariat sowie mehreren journalistischen Stationen im In- und Ausland, ist Christoph Doerner seit einigen Jahren als freier Journalist, Texter und Berater tätig.