„Kalender Girls“ in Ibbenbüren
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Überrascht durch Tiefgang: „Kalender Girls“ in Ibbenbüren

„Die Jahreszeiten kommen und gehen, alles bleibt beim Alten“, heißt es sinngemäß in der Eröffnungsnummer „Yorkshire“ des Musicals „Kalender Girls“ über die Beständigkeit des Lebens in den englischen Yorkshire Dales. Tradition wird hier großgeschrieben. Doch die gemütliche Routine wird im Verlauf der Handlung mehrfach durchbrochen.

Mit der deutschsprachigen Erstaufführung von „Kalender Girls“ (Übersetzung: Hauke Jensen) feiert die Amateurgruppe des QuasiSo Theaters im ehemaligen Kino Schauburg in Ibbenbüren ihr 20-jähriges Jubiläum. Basierend auf dem gleichnamigen Film von 2003 mit Helen Mirren und Julie Walters in den Hauptrollen, veröffentlichte Tim Firth die Handlung 2008 zunächst als Theaterstück und 2015 in Zusammenarbeit mit seinem Schulfreund und Frontmann der Popgruppe „Take That“, Gary Barlow, als Musical.

Das auf einer wahren Begebenheit beruhende Stück erzählt die amüsante und gleichzeitig berührende Geschichte einer Gruppe von Frauen, die sich im beschaulichen Ort Knapely wöchentlich im „Women’s Institute“ treffen, um dort eher altmodischen Aktivitäten wie Marmelade einkochen oder Schals stricken nachzugehen. Als Annies Mann John an Leukämie stirbt, beschließen sie, ihm zu Ehren die unbequeme Bank im Wartesaal der Krebsstation des örtlichen Krankenhauses durch ein neues Sofa zu ersetzen. Um das Geld dafür zusammenzubekommen, hat Annies Freundin Chris eine unkonventionelle Idee, die nicht nur auf Begeisterung stößt: Statt, wie sonst, einen Kalender mit Heimatansichten für einen guten Zweck zu verkaufen, wollen sie diesmal selbst dafür posieren auf Fotos, die sie bei alltäglichen Tätigkeiten wie backen, stricken und gärtnern zeigen – nur, dass sie dabei nackt sind.

Was auf den ersten Blick wie das weibliche Pendant zur britischen Stripper-Komödie „Ganz oder gar nicht“ erscheint, überrascht jedoch durch Tiefgang. Wer hier viel nackte Haut erwartet, kommt nicht auf seine Kosten. Das Fotoshooting ist keineswegs voyeuristisch, sondern vielmehr eine Hommage an die gegenseitige Unterstützung der Frauen untereinander.

Wie in einem Kammermusical liegt der Fokus auf der Handlung, den Charaktere und deren Beziehungen, während gleichzeitig eine intime und persönliche Atmosphäre als Rahmen dafür geschaffen wird. Der Plot nimmt das Publikum mit auf eine bemerkenswerte Reise durch emotionale Höhen und Tiefen. So gehen lustige Episoden mit Situationskomik und Wortwitz nahtlos über in herzzerreißende Szenen, die die Zuschauerinnen und Zuschauer mit der harten Realität der unheilbaren Krankheit konfrontieren. Der Humor hat einen typisch britischen, unbeschwerten Charakter, aber jedem Moment des Lachens stehen ebenso viele Momente des Innehaltens gegenüber. Dabei ergibt sich ein echtes Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den Akteurinnen und Akteuren auf der Bühne und dem Publikum.

Schlicht gehalten ist dementsprechend auch das Bühnenbild von Imke Strothmann: Zwei große Videoleinwände links und rechts der Bühne zeigen die idyllische Hügellandschaft der Yorkshire Dales zu den jeweiligen Jahreszeiten. Verschiedene Handlungsorte werden nur durch einzelne Requisiten wie einen Blumenständer, eine Schubkarre oder zwei Holzbänke dargestellt, die in der Inszenierung von Tim Rikeit und Ute Stöttner oft von den fortlaufend als Running Gag fungierenden Miss Wilsons – einem Zwillingspaar, das möglichst synchron und nur im Doppelpack auftritt – verschoben werden.

Ein immer wieder im Stück aufscheinendes Symbol ist die Sonnenblume, die für für Freundschaft, Wärme und Lebensfreude steht. Chris setzt ihre aufkeimende Kalenderidee eins mit der Entwicklung vom Samen zur Blüte. Ihrer Freundin Annie rät sie, nicht aufzugeben, wie die Sonnenblume, die sich immer wieder zur Sonne wendet. John vergleicht in seinem Abschiedstext ältere Frauen mit Sonnenblumen, die metaphorisch gesehen auch im Herbst ihres Lebens und gerade dann noch besonders „aufblühen“.

Sämtliche Charaktere im Stück sind Menschen wie du und ich, keine Figur ist karikiert oder überzeichnet – von den Mitwirkenden des Quasi So Theaters überzeugend und authentisch dargestellt. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zweifelsohne die Frauen. Kathrin Borchelt wirkt in ihrer Rolle als Annie zunächst bodenständig und unerschütterlich, doch der Verlust ihres Mannes bringt sie an den Rand der Verzweiflung. Ihre beste Freundin, Jasmin Krölls Chris, ist eine Frohnatur und versucht unermüdlich, sie aufzumuntern. Sie schlägt gern über die Strenge, übertreibt es dabei aber manchmal auch etwas zu sehr. Colleen Menger überzeugt als kumpelhafte Cora, alleinerziehende Pastorentochter und Kantorin der Gemeinde, die auf Wunsch ihres Vaters klassische Musik studiert hat, sich aber eher für Blues und Rock interessiert. Simone Baumas Celia wird als Stewardess von den anderen Damen des Golfclubs belächelt und versucht krampfhaft, sich deren Stil anzupassen. Eva Truschinsky gibt als Ruth die brave und perfekte Hausfrau, die es allen recht machen will und übertrieben gutmütig ist, während ihr Mann sie hinter ihrem Rücken betrügt. Angelika Posts Jessie ist als pensionierte Grundschullehrerin für ihr Alter noch gewitzt und offen für Neues. Sie ist es auch, die sich als Erste für das Kalendershooting meldet. Britta Luck als pedantische und konservative Clubvorsitzende Marie ist streng auf Traditionen bedacht und schüttelt immer wieder den Kopf über die Eskapaden der anderen Frauen.

Die Männer geben jeweils ein gutes Pendant zu ihren Partnerinnen ab. Uwe Molter ist als Nationalpark-Ranger John sympathisch, gesellig und allseits beliebt. Seine Krankheit versucht er seiner Frau Annie gegenüber mit Humor zu überspielen. Uwe Heynemeier ist als Chris’ Mann und Blumenverkäufer Rod stets gut gelaunt, gelassen und unkompliziert. Gegenüber ihrem gemeinsamen Sohn Danny zeigt er mehr Verständnis als seine Frau und drückt gerne mal ein Auge zu. Sebastian Horstmann mimt als Celias Partner Denis den leicht snobistischen Jet-Setter, während Bernd Nowicki als Jessies Mann Colin den liebenswerten Senior verkörpert und Moritz Stöttner als Lawrence den netten Krankenpfleger und unaufdringlichen Hobbyfotografen.

Für humoristische Abwechslung sorgen die drei Jugendlichen: Lena Hummel überzeugt als Maries aufsässige Tochter und typische Teenage-Göre Jenny, die Coras Sohn und strebsamen Schulsprecher Danny (Micha Müllmann) gehörig den Kopf verdreht. Im Gegensatz zu ihm hält sich sein Freund Tommo (Julius Goldbeck) für den coolen Checker und versucht, ihm Flirttipps zu geben, obwohl er selbst gar keine Erfahrung mit Frauen hat. Er und Cora haben ein entspanntes Mutter-Sohn-Verhältnis, bilden ein klasse Team und liefern sich witzige Wortgefechte.

Die von Ute Stöttner und Marion Kroll ausgesuchten Kostüme passen perfekt zu den jeweiligen Charakteren. So trägt die kesse Chris eine freche Latzhose, die brave Ruth ein biederes Karokleid, die lässige Cora Jeans und ein Holzfällerhemd und die angepasste Celia einen Tweed-Anzug im Stil von Chanel.

Die fast ausschließlich vom Klavier eingespielte Musik ist eng mit der Handlung und den Figuren verwoben und kommt hier vom Band. Jede der Frauen hat ein eigenes, chansonartig erzählendes Solo der Selbstreflexion und überwindet darin ihre persönlichen Probleme. Die von ihrem Ehemann betrogene Ruth etwa gesteht sich ihre Sucht zum „russischen Freund“ Wodka ein, während Celia zugibt, operativ „etwas machen lassen zu haben“, ihren Körper aber nicht länger verstecken will. Gesanglich beeindrucken unter der musikalischen Leitung von Peter Kieser vor allem Jasmin Kröll mit ihrer Soulstimme bei Chris’ Song „Sunflower“, Colleen Menger mit Coras rockig-bluesigem „Who Wants A Silent Night?“ und Kathrin Borchelt mit Annies berührendem „Kilimanjaro“, in dem sie über die Schwierigkeiten singt, den Alltag nach dem Tod ihres Mannes allein zu meistern und dabei überzeugend zwischen verzweifelt klagenden und nachdenklich leisen Tönen wechselt.

Das Kalendershooting wird im Musical zum hart erkämpften und viel Überzeugungsarbeit erfordernden Triumph. Die Botschaft: Durch Freundschaft, Zusammenhalt und Mut lassen sich nicht nur Hemmungen und Zweifel überwinden, sondern auch Themen wie Trauer, Angst vor dem Altern oder mangelndes körperliches Selbstbewusstsein gemeinsam bewältigen. So singt am Ende noch einmal das gesamte Ensemble „Yorkshire“, den Choral über das beschauliche Dasein im Norden Englands, aber mit einer anderen Sicht auf die Dinge, denn auch wenn der Alltag bleibt, so hat sich im Leben der handelnden Personen doch einiges verändert.

„Kalender Girls“ in Ibbenbüren berührt auch mit wenig Aufwand durch glaubhafte Charaktere, eingebettet in eine von angenehmen Klaviermelodien begleitete, lebensbejahende Handlung. Wer mit dem Musicalbesuch noch Gutes tun möchte, kann in der Schauburg einen von den Ensemblemitgliedern erstellten ähnlichen Kalender wie im Stück erwerben und damit zugunsten des örtlichen Hospizes spenden.

Text: Yvonne Drescher

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Yvonne Drescher ist studierte Musik-, Sprach- und Literaturwissenschaftlerin sowie Kulturmanagerin. Während ihres Studiums hat sie als freie Mitarbeiterin im Kulturbereich für Magazine und Zeitungen geschrieben und anschließend in der PR-Abteilung eines Tourneeveranstalters gearbeitet. Als Laiendarstellerin, Musikerin oder Regieassistentin war sie selbst schon an zahlreichen Musiktheaterproduktionen beteiligt.