„Jesus Christ Superstar“ in Berlin (Foto: Dominik Lapp)
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Flughafen als Rocktempel(hof): „Jesus Christ Superstar“ in Berlin

Die Komische Oper Berlin eröffnet ihre Spielzeit mit einem Musical im ehemaligen Flughafen Tempelhof: Hangar 4 wird zur Arena eines inszenierten Rockkonzerts, das gleichzeitig Fluchtpunkt einer Theaterfamilie ist, die wegen der Sanierung ihres Stammhauses nomadisch geworden ist und das Schillertheater als Interimsquartier nutzt. Die Verlagerung ist Programm und liefert in ihrer Ungewöhnlichkeit genau die Bühnenräumlichkeit, die Regisseur Andreas Homoki für seine Neudeutung von „Jesus Christ Superstar“ braucht – ähnlich wie bei der immersiven Niederlande-Tour im vergangenen Jahr.

Homoki inszeniert den Abend als groß angelegtes Rockereignis: Philipp Stölzls Bühnenbild ist eine Konzertarena mit einem erhöhten Podium, einer Rückwand aus Lautsprecherwänden und einem Steg, der die Solistinnen und Solisten in die Menge führt. Frank Wilde sorgt ergänzend für Kostüme mit Schauwert.

Die Vorstellung läuft ohne Pause und auf Englisch. Sie beansprucht etwas mehr als anderthalb Stunden und gibt den Songs ihren Lauf, ohne Atempausen zu gewähren – ein Fluss, der die rockige Energie der 1970er-Jahre atmet und zugleich die theatralischen Momente dramatisch zuspitzt. Das Publikum ist nicht bloß Publikum, sondern Teil des gesamten Werks: es sitzt vor der Bühne, links und rechts daneben, während Band und Orchester auf dem Podium zurückliegen und der Steg die Charaktere der Show in den unmittelbaren Raum führt. Die Produktion nutzt visuelle Effekte bis hin zu Stroboskopen und Pyrotechnik – die Konzertästhetik ist nicht Staffage, sie ist strukturbildend.

Die Choreografie von Sommer Ulrickson erweist sich als durchdacht und materialsensibel: Die wogenden Massen – 350 Amateure bilden ein Tanzensemble, ergänzt durch den 30-köpfigen Opernchor – komponieren Bewegungsflächen, die im Hangar eher landschaftlich als ornamental wirken. Ulricksons Arbeit liefert klare rhythmische Aussagen, die den Songs physische Entsprechungen geben, und sie verhindert, dass die Masse bloß eine dekorative Kulisse bleibt. In ihrer Konsequenz ist diese Choreografie einer der Gründe, weshalb der große Raum nicht bloß gefüllt, sondern dramatisch genutzt wird.

Die Kostüm- und Figurenkonzeption arbeitet mit starken Farb- und Typen-Kontrasten: Jesus tritt in Weiß, Judas in Dunkelgrau, Mary als verführerische Gefahr in Rot auf – eine Lesbarkeit, die sofort wirkt und dem Konzertcharakter des Abends eine ikonische Klarheit verleiht. Andreas Homoki verschiebt die Figuren in die Nähe gegenwärtiger Pop-Ikonen und Karikaturen: Mary ist kahlgeschoren und in rote Roben gesetzt, die Hohepriester tragen Lack und Leder, ein Saxofonist mit Hundemaske und ein goldglitzernder Pilatus treten als überzeichnete Gestalten auf, die sechs Bandmitglieder tragen Punkfrisuren. Diese drastische Ikonografie fällt nicht immer subtil aus, doch sie ist konsequent und erzeugt Bildmomente – etwa das große Traversen-Kreuz, Feuerfontänen bei den 39 Peitschenhieben oder die exzessiven Party-Sequenzen, die im Hangar eine eigene religiöse wie popkulturelle Bildlichkeit herstellen.

Musikalisch trägt das Projekt exzellente Stimmen und eine präzise Leitung: Ryan Vona als Jesus liefert hymnische Höhen mit souveräner, stets emotional gehaltener Präsenz – sein Solo „Gethsemane“ gerät zur erbarmungslosen Seelenschau. Ryan Shaw als Judas ist eine echte Rockröhre, die zwischen Zorn und Einsicht oszilliert. Ilay Bal Arslan verleiht Mary ein warmes, jazzig gefärbtes Timbre. Daniel Dodd-Ellis als Caiaphas imponiert mit sonorer, drohender Stimmfarbe, während Michael Nigro als Annas dies mit scharfem Tenor ergänzt. Jogi Kaiser gibt Herodes herrlich überzogen, Kevin(a) Taylor legt Pilatus schauspielerisch facettenreich und mit starker Stimme an. Oedo Kuipers als Peter überzeugt mit jugendlichem Schmelz, Dante Sáenz als Simon bringt kraftvolle Energie ein.

Wem es um das originäre musikalische Material geht, dem bescheinigt diese Produktion, dass die Songs von Andrew Lloyd Webber und die Texte von Tim Rice auch nach mehr als 50 Jahren nichts von ihrer Anziehungskraft verloren haben: Das Material bewährt sich als Formmittel, das sich immer wieder neu bespielen lässt. Unter dem Dirigat von Koen Schoots hält die Produktion die Balance zwischen sechsköpfiger Band, 44-köpfigem Orchester, Chor und Solostimmen mustergültig – das Rockband-Arrangement verschmilzt mit orchestralen Farben, ohne dass die Transparenz der Stimmen leidet.

Szenisch bietet der Abend Bilder, die haften bleiben: Judas‘ verzweifelte Selbsttötung, aufgemacht als düsterer Schlussakkord, die pyrotechnischen Entladungen, die Menschenmassen, die an Filme wie „Ben Hur“ und „Die Passion Christi“ erinnern – all das wirkt wie die dramatische Übersetzung einer Weltuntergangsrevue. Genau diese Überfülle ist die oft notwendige Strategie, um einen so voluminösen Raum wie einen Hangar zu füllen, dessen akustische und räumliche Dimensionen besondere Antworten verlangen.

In der Bilanz bleibt ein Abend, der seine Stärken in der kongenialen Verbindung von Pop-Ästhetik und theatraler Präzision findet: „Jesus Christ Superstar“ im Hangar 4 des ehemaligen Flughafens Tempelhof ist groß und überbordend, aber nicht oberflächlich. Wer Hymnen, explizite Bilder und Eigensinn sucht, erlebt hier eine eindringliche, handwerklich feine und mutige Lesart eines Klassikers. Das mag nicht allen gefallen – doch so spannend kann Musical sein, auch ganz ohne politische Deutungen.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".