„Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Dominik Lapp)
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Gefährlich aktuell: „Der Besuch der alten Dame“ in Tecklenburg

Nach mehrmaliger pandemiebedingter Verschiebung konnte bei den Freilichtspielen Tecklenburg abschließend auch die zweite, äußerst lang erwartete Produktion der Saison 2022 Premiere feiern: „Der Besuch der alten Dame“, nach dem gleichnamigen Theaterklassiker von Friedrich Dürrenmatt, schafft es neun Jahre nach seiner Uraufführung bei den Thuner Seefestspielen unter der Regie von Ulrich Wiggers (Buch: Christian Struppeck) endlich auf die deutsche Musicalbühne. Man fragt sich ernsthaft, warum dieser geniale, dramatische, gefährlich aktuelle Stoff, getragen von großartiger, symphonischer Musik (Michael Reed und Moritz Schneider, Liedtexte: Wolfgang Hofer) so viele Jahre dafür brauchte.

Verleumdet, verstoßen, verraten: Als die junge Kläri ihren Heimatort Güllen verlassen musste, war sie gebrandmarkt und für ihr Leben gezeichnet. Jahrzehnte später kehrt sie mit erhobenem Haupt als elegante Milliardärin Claire Zachanassian (Masha Karell) zurück und wirft mit ihrem beeindruckenden Gefolge, riesigen Koffern und einem schwarzen Panther als Haustier das ganze heruntergekommene, mausgraue, kleinkarierte Dörfchen aus der Bahn. Heiß ersehnt wird sie erwartet, um Güllen wieder auf die Beine zu helfen und finanziell zu stabilisieren.

Ladenbesitzer Alfred Ill (Thomas Borchert) erhält dafür vom Bürgermeister (Martin Pasching) ein großzügiges Angebot: Sollte er es schaffen, seine Jugendliebe zu bezirzen und ihr die Geldscheine zu entlocken, würde er für ihn seinen Sessel im Rathaus räumen. Doch schon am ersten Abend offenbart Claire den Einwohnern Güllens den wahren Grund ihres Besuches: Sie ist bereit, zwei Milliarden zu verschenken, wenn Alfred Ill im Gegenzug dafür mit dem Leben bezahlt. Es ist die traumatisierte Forderung nach Gerechtigkeit für das erlittene Leid, an dem Mann, der ihrer Meinung nach dafür die Schuld trägt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, als ein ganzes Dorf, geblendet und verführt von großen Versprechungen, ungewollt zu Mördern wird.

„Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Mit dem ersten, noch harmonischen Wiedersehen von Claire und Alfred kreieren Masha Karell und Thomas Borchert eine gefühlvolle, wenn auch sehr zerbrechliche Bindung zwischen den ehemals Verliebten und lassen die Vergangenheit und Erinnerungen in spürbar leisen, zarten Tönen wieder aufflammen. Hier reicht bei den beiden Hauptdarstellern ein Blick, eine Berührung und der Zuschauer mag erahnen, welch tiefgehende Geschichte ihre beiden Protagonisten miteinander verbindet. Ulrich Wiggers erlaubt sich verstärkend den geschickten Einsatz der jüngeren Ichs als Rückblenden (großartig als junge Claire ist Katia Bischoff und als junger Alfred Fabio Diso) und ein daraus entstehendes, spannendes Spiel mit den Charakteren. Die Vernetzung und Interaktion untereinander ermöglichen noch tiefere Einblicke in das Gefühls- und Erinnerungsvermögen des alten, gebrochenen Paares, das durch die jungen Leute schützend, mit einer liebevollen Leichtigkeit eingerahmt wird.

Masha Karell schlüpft von der ersten Sekunde beeindruckend greifbar in Claires Haut und kreiert äußerst mitfühlend einen Bogen, der in das tiefste Seelenleben und den darin emotionalen, aufschäumenden Kampf blicken lässt. Wirkt die Milliardärin nach außen intelligent und äußerst unnahbar, kontrolliert, ja beinahe schon gefühlskalt, wird nicht zuletzt dank ihres jüngeren Ichs greifbar, wie sehr sie einst litt, als sie enttäuscht von ihrer großen Liebe vor Gericht verlacht und verleumdet wurde und man sie verraten und verstoßen aus dem Dorf jagte.

Die Songs „Gerechtigkeit“ und „Die Welt gehört mir“ sind einerseits Claires stärkste, zugleich aber auch hochgradig verletzlichste Momente. Spielerisch leicht füllt Karell die riesige Bühne auch ohne Gefolge ganz für sich allein aus und schafft es, ihrem Gegenüber Ehrfurcht einzuflößen. Sowohl gesanglich mit starkem Belt als auch schauspielerisch gehört die Rolle der Claire Zachanassian ohne Zweifel zu einem der herausforderndsten Parts im Musical-Metier. Eine Rolle, die absolute Stärke, Ausdruck und äußerste Bühnenpräsenz erfordert, sowie das Talent, der charakterlichen Vielschichtigkeit und dem inneren Gefühlskonflikt, der Claire bis zum Schluss im Weg steht, die nötige Tiefe und wichtige Authentizität zu verleihen.

„Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Ladenbesitzer Ill wirkt neben der mit Diamanten behangenen, stolzen Milliardärin dank Thomas Borcherts authentischer Darstellung zunächst sichtbar blass und äußerst unsicher. Als sich mit dem Laufe der Zeit für Alfred Ill der wahre Grund von Claires Besuch offenbart und die Verzweiflung immer mehr Besitz von ihm nimmt, beginnt auch sein Charakter die nötige Tiefe und Entwicklung zu erfahren. Alfreds Ehefrau Mathilde (Navina Heyne) schwört mit rührseligem Versprechen, stets an seiner Seite zu bleiben – und dennoch gelingt es ihr nicht, ihn aufzufangen und letztendlich zu beruhigen. Heyne begeistert mit ihrem mehr als klangvollen Sopran, als sie schützend die Arme über ihren Bühnenpartner legt und schafft es, dem nach außen hin eher farblosen Charakter der Mathilde Ill mit ihrer empathischen Spielweise und überraschender Bühnenpräsenz eine nachdrückliche Stärke und Sympathie zu verleihen.

Bei den Einwohnern Güllens ist das Entsetzen nach Claires Forderung zu Beginn groß. Doch mit dem Laufe der Zeit beginnen sie sich auszumalen, was sie mit zwei Milliarden theoretisch alles materiell realisieren könnten. Selbst Ills beste Freunde – Polizist Gerhard Lang (Andreas Goebel), Bürgermeister Matthias Richter (Martin Pasching) und Pfarrer Johannes Reitenberg (Benjamin Eberling) – erliegen der süßen Versuchung des Konsums. Lediglich Lehrer Klaus Brandstetter (Alexander di Capri) durchschaut die gefährliche Dynamik und weigert sich zunächst noch, auf den fahrenden Zug aufzuspringen.

Getrieben von Käuflichkeit und Habgier, durchlebt die Bevölkerung die größte Wandlung, als sie am Ende im „Namen der Gerechtigkeit“ all ihre Prinzipien über den Haufen wirft. Der geschickte Einsatz von Farben und Feinheiten, kleinen Accessoires und Nuancen, wie eine Perlenkette oder gelbe Stiefel (Kostüme: Karin Alberti), verdeutlichen den langsamen, aber zunehmend bedrohlichen Übergang zum Materialismus. Es ist wie ein Sog, der sich für Alfred Ill auftut und die Schlinge um seinen Hals immer enger werden lässt.

„Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Unterstützt durch den Chor und die Statisterie der Freilichtspiele Tecklenburg weiß die Regie, die vergleichsweise große Bühne erfolgreich zu nutzen. Schlüsselszenen, wie die zwischen dem Ehepaar Ill, werden aus dem Gemischtwarenladen von der Seitenbühne in die Mitte verlagert und alle Tore, Türen und Möglichkeiten, die diese Bühne zu bieten hat, gekonnt in die Handlung integriert. Mit seinem filmischen Blick sorgt Ulrich Wiggers mit einer Leichtigkeit dafür, dass es keine scharfen Brüche gibt. Fließend sind die Übergänge, die Szenen und Auftritte geben sich die Klinke in die Hand und lassen das Publikum dankbar voll und ganz eintauchen.

Im zweiten, immer dunkler und bedrückender werdenden Akt, erfährt dies zusätzlich Untermalung dank des erfolgreichen Einsatzes von Licht (Tim Löpmeier) und Nebelmaschinen. Massenszenen wie „Glanz und Gloria, „Sie ist seltsam“, „Man gönnt sich ja sonst nichts“ oder „Tempel der Moral“ sind choreografisch (Bart De Clercq), aber auch musikalisch eindrucksvoll und verleihen der Storyline eine gelungene Abwechslung sowie melodische Nuancen von Walzerklängen bis hin zu den harten Untertönen bei „Ungeheuerlich“, die einem durch Mark und Bein gehen. Das mit mehr als 20 Musikerinnen und Musikern reich besetzte Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch unterstreicht das Geschehen mit großen Melodien nachdrücklich und sorgt für einen fantastischen, klangvollen Genuss. Das Publikum exzellent in die Story eintauchen lässt außerdem das großartige Bühnenbild von Jens Janke, der als zentrales Element das Hotel „Zum goldenen Apostel“ sowie einen Bahnhof, die Güllener Polizeistation und den sehr detailliert ausgestatteten Laden von Alfred Ill geschaffen hat.

Charmant, aber nicht zu aufdringlich bringt Ulrich Wiggers Dürrenmatts Gegenwart ins Spiel und setzt dezent Smartphones, Face-Time und die Nähe zur Tecklenburger Umgebung ein, was für große Erheiterung im Publikum sorgt. Einen unerwartet unterhaltsamen Höhepunkt findet die Inszenierung im zweiten Akt, als auch Claires Trio Infernal (Andrew Chadwick, Jochen Schmidtke, Michael B. Sattler) die Contenance für einen Augenblick äußerst sexy und amüsant über den Haufen wirft. Bei all der inhaltlichen Schwere eine angenehme, willkommene Abwechslung.

„Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Dominik Lapp)

Am Ende ist vieles zu spät. Für Mathilde, die schmerzhaft erkennen muss, dass Alfred sie nie geliebt hat. Für Claire, die Alfred bis zum Schluss nicht verzeihen kann und ihre Gefühle erst anerkennt, als es zu spät ist. Und zu guter Letzt für Alfred, der von seinem Umfeld verlassen mit dem Leben bezahlen muss. Dennoch geht er als heimlicher Gewinner hervor, als er in „Ich hab die Angst besiegt“ alle Altlasten abstreift. Es ist nach einem wahren Höllenritt das große gesangliche, vielleicht auch erleichternde Finale dieser Rolle, die trotz äußerer Gebrochenheit von innerer Stärke zeugt: Er überlässt Güllen einer geldgierigen, erpressbaren Bevölkerung, die bereit ist, ihn zu töten. Und wer möchte in solch einer Bevölkerung schon leben?

Das Musical „Der Besuch der alten Dame“ ist sicher das komplette Gegenteil zur zweiten Tecklenburger Sommerproduktion „Sister Act“. Trotz geschickt eingesetztem (schwarzen) Humor, Sarkasmus und Ironie und trotz mancher, sehr erheiternder Szenen, überwiegt das erdrückende Gefühl, das sich im Laufe des Stücks wie ein immer schwerer werdender Mantel über das Publikum legt. Es ist eine erschreckende Realität, wie sie sich täglich in unserem Leben ereignen könnte. Vielleicht wird man deshalb so abgeholt, vielleicht wird es dadurch so unglaublich eindrücklich und so erschreckend brillant. Es ist die Frage nach der Moral und das gefährliche Spiel um Macht, Geld, Habgier und Mitläufertum.

Nach nur dreieinhalb Wochen Probenzeit und immer wieder begleitet durch den Schatten der Corona-Pandemie, ist es dem Kreativteam und dem Ensemble gelungen, einen großartigen, äußerst eindrucksvollen Premierenabend zu hinterlassen. Eine Mammutaufgabe, diesen fantastischen Stoff mit all seinen Vielschichtigkeiten gekonnt umzusetzen und auf die große Tecklenburger Bühne zu bringen, wo es gilt, auch das Publikum in der letzten Reihe zu erreichen und mitzunehmen. Der Schlusston lässt den Zuschauer erschüttert und vielleicht auch fassungslos zurück. Manche mögen sich den Spiegel vorhalten und tagelang danach noch fragen, ob man anders gehandelt hätte. Springen wir nicht auch manchmal auf einen fahrenden Zug auf, ohne die Dinge zu hinterfragen? Haben wir nicht auch schon einmal etwas getan, weil wir äußerlich dazu gezwungen wurden? Wie weit wäre man selbst gegangen? Schließlich heißt es ja, „Geld schlägt Moral, lässt Leute tanzen…“

Text: Katharina Karsunke

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.