„Annie“ (Foto: Dominik Lapp)
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Starke Solisten: „Annie“ in Stuttgart

Es darf gewiss als Wagnis bezeichnet werden, dass die neu gegründete Off-Broadway Theater Company in Stuttgart das Musical „Annie“ im Musikclub Im Wizemann auf die Bühne gebracht hat. Das Stück, das in den USA sehr bekannt ist und an wohl jeder Schule mindestens schon einmal gespielt wurde, ist in Deutschland noch immer recht unbekannt. Sportlich ist auch die Herausforderung, rund 70 Vorstellungen in Stuttgart anzusetzen und ein Gastspiel im Düsseldorfer Capitol-Theater vorzusehen. Der Ausflug nach Düsseldorf musste letztendlich gestrichen werden, aber in Stuttgart schlägt sich die Produktion wacker – das liegt vor allem an dem energiegeladenen Kinderensemble und den namhaften Solisten.

Im Fokus der Handlung steht das Waisenmädchen Annie, das vom Milliardär Oliver Warbucks aus PR-Gründen aufgenommen wird. Nachdem sie jedoch sein Herz erobert, adoptiert er sie schließlich. Doch genau hier krankt das Buch von Thomas Meehan, weil sich überhaupt nicht zeigt, wie Annie so schnell das Herz des Milliardärs erobern konnte und warum Warbucks sich vom erfolgsverwöhnten, berechnenden Bürgermeisterkandidaten zum netten Onkel entwickelt. Hannes Staffler, der in der Rolle des Oliver Warbucks fast noch ein wenig zu jung wirkt, gibt aber souverän einen würdigen Lebemann und singt mit klangschöner Stimme.

Den perfekten Gegenpol stellt Brigitte Oelke als herrlich fiese wie lustige Waisenhausleiterin dar. Ihre Miss Hannigan ist eine Kinder hassende Schnapsdrossel wie aus dem Bilderbuch, weshalb Oelke die Lacher oftmals auf ihrer Seite hat. Doch auch gesanglich kann sie mit ihrer wohltönenden Stimme vollends überzeugen, so dass sie definitiv die stärkste Leistung des Abends bringt.

Joana Fee Würz ist als Grace nicht nur die Assistentin von Oliver Warbucks, sondern auch so etwas wie die liebenswürdige, gute Seele im Hause Warbucks. Diese Darstellung gelingt ihr durch ihr authentisches Schauspiel genauso wie durch ihren klaren Sopran. Vera Bolten steht ihr allerdings in nichts nach. Hat sie als Lily zwar nur eine kleine Rolle zu spielen, holt sie dennoch alles, was möglich ist, aus ihrem Part heraus. Mit frecher Klappe und taffem Auftreten verleiht Bolten ihrer Rolle Kontur und hinterlässt einen positiven Eindruck, genauso wie Siegmar Tonk als betrügerischer Rooster absolut rollendeckend agiert.

In der Rolle der Annie hat Sarah Tschinkel, die bereits professionelle Bühnenerfahrung als Jane Banks in der Stuttgarter Produktion von „Mary Poppins“ sammeln konnte, ein schweres Päckchen zu tragen. Gesanglich gibt sie sich viel Mühe und schauspielerisch agiert sie souverän als optimistische Titelfigur, so dass man der Zwölfjährigen, genauso wie dem gesamten Kinderensemble, zu dieser Leistung nur gratulieren kann. Einen souveränen Job macht zudem die links neben der Bühne platzierte und fürs Publikum gut sichtbare Band unter der Leitung von Christian Million.

Hübsch anzusehen sind – neben der Choreografie von Andrew Hunt, die einmal sogar an „Stomp“ erinnert – die zeitgemäßen Kostüme von Tina Mittler und Peter Sommerer sowie das Setdesign von Peter Sommerer. Erzählt wird die Geschichte in einem Einheitsbühnenbild, das aus einer mit Graffiti besprühten Wand, zahlreichen Blechmülltonnen und dem Kopf der Freiheitsstatue besteht. Szenenwechsel werden lediglich durch ein paar Requisiten angedeutet, und so entsteht zum Beispiel das Büro von Oliver Warbucks, indem lediglich eine Tischplatte auf zwei Mülltonen gelegt wird – einfach, aber zweckdienlich.

Was der Inszenierung von Rainer Niermann allerdings fehlt, ist das Herz. Nun ist schon das Buch von Thomas Meehan wie eingangs erwähnt nicht das beste. Auch die Handlung plätschert – ebenso wie die Musik von Charles Strouse – stellenweise nur so dahin. Aber als Regisseur hätte Niermann versuchen müssen, das Optimum aus der Vorlage herauszuholen. Manchmal ist ihm das sogar ganz wunderbar geglückt, zum Beispiel immer dann, wenn Annie die vierte Wand durchbricht, ins Auditorium läuft und dort unter einer Ballonwolke oder auf einer Schaukel inmitten der Zuschauer von der Zukunft träumt. Doch viel zu schnell geraten solche tollen Szenen in Vergessenheit, weil es den darauffolgenden Szenen an Herz fehlt oder gerade die charakterliche Entwicklung von Warbucks nicht logisch genug herausgearbeitet wurde. Schade!

Insgesamt bleiben bei „Annie“ auf der Habenseite die starken Solisten, das energiegeladene Kinderensemble und eine hübsche Optik. Und natürlich ist es generell schön, dass sich ein Start-up wie die Stuttgarter Off-Broadway Theater Company einem Werk wie „Annie“ angenommen hat und versucht, in der Schwabenmetropole neben den beiden großen Musicaltheatern von Stage Entertainment eine Off-Bühne zu etablieren. Es bleibt zu hoffen, dass die enthusiastischen Theatermacher einen langen Atem haben und nach „Annie“ noch weitere Musicalproduktionen auf den Weg bringen können.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".