
Go woke, go broke? Nein! Warum Disneys Realverfilmung von „Schneewittchen“ genau richtig ist
Noch bevor die erste Kinovorstellung überhaupt über die Leinwand flimmerte, war Disneys Realverfilmung von „Schneewittchen“ längst zum Politikum geworden. Was einst ein Märchen war, ist nun Schlachtfeld eines Kulturkampfes, bei dem es längst nicht mehr nur um die Qualität eines Films geht – sondern um Weltbilder, Narrative und alte Machtstrukturen, die sich gegen den Wandel stemmen.
Eine Geschichte in vielen Fassungen
Wer heute behauptet, Disneys neue Version entferne sich zu sehr vom Original, der sollte sich zunächst fragen: Von welchem Original eigentlich? Vom Grimm’schen Märchen aus dem Jahr 1812, das bereits 1857 eine Überarbeitung erhielt? Oder sprechen wir vom Disney-Zeichentrickfilm von 1937, der in der kollektiven Erinnerung offenbar zur Heiligen Schrift des Märchens geworden ist, obwohl auch dieser sich reichlich kreative Freiheiten nahm?
Dabei war „Schneewittchen“ nie ein starres Erbe, sondern immer ein Spiegel seiner Zeit. In dem Märchen geht es um Rollenbilder von Frauen, patriarchale Strukturen, soziale Ordnung und Hierarchien, moralische Erziehung und religiöse Motive. Und gerade deshalb ist es richtig und notwendig, dass sich die Geschichten weiterentwickeln. Disneys neue Verfilmung tut genau das: Sie übersetzt ein rund 200 Jahre altes Märchen und einen bald 100 Jahre alten Zeichentrickfilm in eine neue Zeit.
Moderne Heldin statt Prinzessin im Koma
Im Zentrum steht eine junge Frau, die nicht mehr darauf wartet, dass ein Prinz sie rettet. Das Schneewittchen ist keine passive Märchenfigur mehr, sondern eine eigenständige, entschlossene Heldin. Der Prinz? Kein romantischer Retter, sondern Anführer einer Räuberbande – fast schon eine Randfigur. Die Liebe? Spielt hier nicht die Hauptrolle. Das mag für Traditionalisten befremdlich sein, ist aber eine längst überfällige Neudefinition weiblicher Hauptrollen. Selbst der Name „Schneewittchen“ bekommt eine neue poetische Erklärung: geboren in einer schneereichen Nacht – anstelle des alten Bildes des unschuldigen Mädchens mit der schneeweißen Haut, das längst aus der Zeit gefallen ist.
Aufregung über Diversität – ein Rückfall in alte Reflexe
Die eigentliche Debatte entzündete sich jedoch an der Besetzung. Rachel Zegler als Schneewittchen – das war ein gefundenes Fressen. Nicht etwa, weil sie ihre Rolle schlecht spielen würde (ganz im Gegenteil!), sondern weil sie nicht in das rassifizierte Ideal einer schneeweißen Disney-Prinzessin passe. Dabei ignorieren die Kritikerinnen und Kritiker bewusst, dass Zegler mit ihrem Aussehen durchaus dem Archetyp der ikonischen Disney-Version ähnelt – Haarfarbe, Frisur, sanfte Gesichtszüge. Was hier abgelehnt wird, ist die Idee, dass eine Latina eine Hauptrolle spielt, die wegen des ursprünglichen Märchens und eines Zeichentrickfilms als weiß definiert wurde. Das ist kleingeistig.
Einige Stimmen im Internet werfen Rachel Zegler zudem vor, nicht hübsch genug zu sein, um die Rolle des Schneewittchens zu spielen – vor allem im Vergleich zur bösen Königin, gespielt von Gal Gadot. Doch genau darin liegt ein grundlegendes Missverständnis der Märchenaussage. Schneewittchens Schönheit war nie nur äußerlich gemeint – sie steht für Reinheit, Güte und innere Stärke. Die Königin hingegen ist zwar von außen makellos, aber von innen eitel, neidisch und grausam. Der Film versucht also, genau diesen Kontrast sichtbar zu machen: Wahre Schönheit kommt von innen. Wer nur die Oberfläche bewertet, verpasst die eigentliche Botschaft.
Auch die Aufregung über das im Vorfeld geleakte erste Bild der Räuber, die fälschlich als Ersatz für die sieben Zwerge interpretiert wurden, entlarvt die reflexhafte Ablehnung jeder Neuerung. Tatsächlich wurden die Zwerge gar nicht ersetzt, sondern durch weitere Figuren – eine divers besetzte Räuberbande – ergänzt. Aber da war die Empörung schon längst medial verwertet – wieder einmal ein Beispiel dafür, wie stark sich Debatten inzwischen von Fakten lösen. Es wird sich bereits eine Meinung gebildet, bevor man das Ergebnis gesehen hat.

Die Wokeness-Lüge und ihre Folgen
Was derzeit passiert, ist gefährlich: Der Begriff „woke“ – einst Ausdruck von Bewusstsein für soziale Ungleichheit – wird gezielt diskreditiert und als Synonym für Scheitern instrumentalisiert („Go woke, go broke“). Wokeness-Gegner nutzen das Scheitern von „Schneewittchen“ an den Kinokassen, um ein Narrativ zu stützen: Woke Filme floppen. Das ist nicht nur verzerrt, sondern schlicht falsch.
Denn tatsächlich waren andere Faktoren für die verhaltene Rezeption verantwortlich: Produktionsprobleme, geleakte Bilder im falschen Kontext, durchwachsenes Marketing, und vor allem eine toxische Vorabdebatte, die das Publikum bereits vor dem Kinostart polarisiert hat. Viele potenzielle Zuschauerinnen und Zuschauer wurden verunsichert oder gar abgeschreckt – nicht wegen des Films, sondern wegen des Sturms, den er auslöste. Der wahre Skandal liegt also nicht auf der Leinwand, sondern davor.
Ein Fehler, den Disney gemacht hat: den Film „Schneewittchen“ zu nennen. Man hatte zwar schon bewusst auf den Zusatz „und die sieben Zwerge“ verzichtet, um zu betonen, dass es sich um eine Neuinterpretation handelt – doch das ist nicht genug. Hätte man den Streifen als Stand-Alone-Film mit einem neutralen Titel (wie wäre es mit „Der zerbrochene Spiegel“ oder „Mirrorfall“?) in die Kinos gebracht, hätte es sicherlich weder eine Wokeness-Debatte noch Diskussionen über die Besetzung der Hauptfigur gegeben. Der Film hätte als Fantasy-Geschichte für sich gestanden, basierend auf einem Märchen der Brüder Grimm, der zudem fantastische Songs von Benj Pasek und Justin Paul sowie einen gelungenen Score von Jeff Morrow vorzuweisen hat. Ganz im Stil der großartigen Musik, die sie für „The Greatest Showman“ geschrieben haben, konnten Pasek und Paul auch für „Schneewittchen“ kraftvolle Ensemblenummern wie „Was hier wächst, wird gut“ und Hymnen wie „Ich wünsch‘, es wäre wahr“ vorlegen.
Andere Filme, andere Maßstäbe
Wenig überraschend ist, dass es bei anderen „Schneewittchen“-Adaptionen wie „Snow White and the Huntsman“ keine Kritik gab – obwohl dieser sich ebenfalls vom Grimm’schen Original entfernte. Der Unterschied: Es war kein Disney-Film. Und vor allem: Es war kein Film mit progressivem Anspruch. „Barbie“ hingegen, ein Film, der Diversität und Feminismus offen umarmt, feierte einen gigantischen Erfolg – ein Beweis dafür, dass woke Inhalte nicht abschrecken, sondern begeistern können. Vorausgesetzt, man lässt sie.
Hollywood unter Druck
Doch die Erzählung vom woken Scheitern hat längst Auswirkungen. Studios werden vorsichtiger, queere Inhalte wie in Disneys „Lightyear“ werden in manchen Märkten gestrichen, Diversity-Initiativen sind beendet worden. Die neue Trump-Ära hat Spuren hinterlassen: Nachdem der US-Präsident bereits Theaterstücke und Musicals am Kennedy Center abgesetzt hat, droht das Kino zum nächsten Frontabschnitt ideologischer Grabenkämpfe zu werden.
Der wahre Verlust wäre, wenn Studios sich von dieser aggressiven Stimmung einschüchtern ließen. Wenn sie begännen, Vielfalt zu scheuen – aus Angst vor Shitstorms. Wenn sie aufhörten, neue Geschichten zu erzählen, weil alte Weltbilder lauter brüllen.
Es geht um mehr als ein Märchen
Letztendlich ist „Schneewittchen“ ein Film, der sich lohnt – wegen seiner starken Titelfigur, und weil er mehr abenteuerreiche Fantasy-Geschichte (die durchaus auch ihre Längen hat) als Märchen ist. Weil er genauso großartige Bilder wie eindrucksvolle Musik bietet. Weil er zeigt, dass klassische Stoffe neu gedacht werden können. Weil er beweist, dass Wandel möglich ist – selbst in der märchenhaften Welt von Disney. Die wahre Bedrohung für das Kino ist nicht Wokeness. Es ist die Angst vor Veränderung. Und der Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen – so wie Donald Trump amerikanische Geschichte per Dekret umschreiben will.
Text: Dominik Lapp