Helen Schneider (Foto: Anatol Kotte)
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Interview mit Helen Schneider: „Ich bin immer bereit für neue Abenteuer“

Als erste westliche Künstlerin trat sie vor mehr als 40 Jahren in der DDR auf, sie sang mit Hildegard Knef und Udo Lindenberg: Helen Schneider. Nach ihrer internationalen Karriere als Rocksängerin wandte sie sich dem Musical zu, kreierte so ikonische Rollen wie Norma Desmond in „Sunset Boulevard“ und wird 2024 in „Der Ghetto Swinger“, „Das Lächeln einer Sommernacht“ und „Elisabeth“ zu sehen sein. Im Interview gewährt Helen Schneider Einblicke in ihren facettenreichen Werdegang, erzählt von unvergesslichen Momenten auf der Bühne und reflektiert ihre Entwicklung als Künstlerin bis hin zu ihrer aktuellen Tätigkeit als Dozentin an der Stage School Hamburg.

Du bist eine unglaublich vielseitige Künstlerin und hast schon sehr viel gemacht: Bluessängerin, Rocksängerin, Musical, Theater, Film, Illustratorin, Dozentin. Wie hat sich diese Vielseitigkeit entwickelt?
Ich bin einfach neugierig. Teilweise war es aber auch ein Versuch, am Leben zu bleiben. Wenn sich eine Tür schließt, muss man schauen, ob sich eine neue öffnet oder man einen Spalt in der Tür findet, durch den man sich hindurchquetschen kann. Was einen auf der anderen Seite erwartet, ist nicht immer klar. Ich bin immer bereit für neue Abenteuer.

Viele Menschen kennen dich vor allem durch deine Musicalrollen in Stücken wie „Sunset Boulevard“ oder „Cabaret“. Aber du hattest ja bereits eine Karriere als Rocksängerin, bevor du in Musicals zu sehen warst. Wie weit weg ist diese erste Karriere für dich?
Ich bin mittlerweile 71 Jahre alt, das ist 40 Jahre her. Aber es ist immer noch ein Teil von mir. Wenn ich mich auf Fotos aus dieser Zeit sehe – dieses Fräulein von damals – dann fühle ich mich ganz weit weg davon. Ich bin älter geworden, sehe anders aus, habe andere Interessen, aber mein Bühnenleben hat immer mein echtes Leben reflektiert. So ist es immer noch.

Du warst die erste westliche Künstlerin, die in der DDR im Palast der Republik aufgetreten ist. War dir das damals bewusst?
Das war ein Zufall. Ich war sehr bekannt. Das Angebot, im Palast der Republik aufzutreten, kam mir sehr entgegen. Ich dachte mir: Wie toll ist das bitte, dass ich das trotz der innerdeutschen Grenze machen kann? Musik kennt schließlich keine Grenzen. Ich hatte dort großartige Begegnungen und gute Erfahrungen gesammelt. Wobei das Politbüro nicht sehr erfreut war. Ich durfte auf der Bühne nur weit hinten stehen. Aber ich habe mir ein Mikrofon mit sehr langem Kabel geben lassen, damit ich auch weiter nach vorne gehen und Nähe aufbauen konnte. Es war ein unvergesslicher Abend für mich.

Als der Wechsel zum Musical kam, wurdest du in großen Rollen bekannt: Norma Desmond in „Sunset Boulevard“, Sally Bowles in „Cabaret“ und Eva Perón in „Evita“. Natürlich waren da auch noch Reno Sweeney und Frida Kahlo. Welche dieser Rollen hat dich am meisten herausgefordert oder sogar geprägt?
Alle hatten für mich einen großen Effekt. Ich habe versucht, allen meinen Projekten eine Bedeutung zu geben. Ich war immer davon überzeugt, dass mir eine Rolle entweder durch ihren negativen oder ihren positiven Aspekt etwas beibringen kann. Sweeney war reine Unterhaltung. Aber die anderen vier hatten alle eine große Botschaft. Frida zum Beispiel hat sich durchs Leben gebissen. Sally unter Helmut Baumann am Theater des Westens war meine erste Rolle in Deutschland und eine Möglichkeit, Deutsch zu lernen. Damals begann meine deutschsprachige Reise. Sally hat mir gezeigt, was man nicht machen sollte. Aber ihre trotzige Seite war interessant. Eva Perón war ein Studium in Macht und falschen Entscheidungen, in Gier und Neugier. Norma hat mir gezeigt, wie man in meinem Beruf nicht altern sollte. Mein erstes Jahr mit Norma war sehr heftig. Danach war ich psychisch sehr verletzt. Als ich nach einer Pause zurückkehrte, war mein Ziel, herauszufinden, wie tief ich in die Rolle eintauchen und unbeschadet wieder rauskommen kann. Norma Desmond war eine psychische Herausforderung.

Helen Schneider (Foto: Anatol Kotte)

20 Jahre später hast du die Rolle noch mal gespielt. Wie war das?
Das war interessant, dieser Rolle so viele Jahre später mit einer ganz anderen Lebenserfahrung wieder zu begegnen. Ich hatte mittlerweile ein anderes Verhältnis zu dem Stoff. Es war eine massive Freude und Bereicherung für mich, noch mal Norma zu spielen.

Hast du mit Norma abgeschlossen oder würdest du sie gern noch einmal spielen?
Ich würde sie gern noch mal spielen! Ich bin neugierig, wie ich es jetzt machen würde. Auch den Conférencier in „Cabaret“ würde ich gern noch mal machen. Vielleicht bekomme ich das Angebot noch mal, keine Ahnung. I will love to!

Der Conférencier wurde früher ausschließlich männlich besetzt, inzwischen ist diese Rolle für alle Geschlechter offen. Wie war es für dich, nachdem du schon Sally Bowles gespielt hattest, im gleichen Stück einen anderen – noch dazu einen ursprünglich männlich gelesenen – Part zu übernehmen?
Das war herrlich! Es war supertoll, ein Stück aus der Sicht einer anderen Rolle zu behandeln. Mit dem Regisseur Gil Mehmert hatte ich zuvor schon „Der Ghetto Swinger“ auf der Bühne kreiert. Er hat mich dann gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, den Conférencier in Bad Hersfeld zu spielen. Seine Idee war, mit der Rolle in Richtung Marlene Dietrich zu gehen. Wir haben dann aber entschieden, eher ein geschlechtsneutrales Wesen zu schaffen. Das war ein Erfolg, und ich war eigentlich ständig auf der Bühne. Eine große Herausforderung!

Bad Hersfeld ist als Open-Air-Bühne sicherlich generell eine Herausforderung.
Dass kann man so sagen. Ich bin seit Jahrzehnten mit Judy Winter befreundet, und ich erinnere mich noch gut daran, wie Judy mich in ihrem ersten Jahr fragte: Helen, Darling, was passiert denn, wenn es regnet? Und ich sagte: Wir spielen. Und sie: Nein! Und ich: Doch, aber es gibt kein Dach über der Bühne. (lacht)

Helen Schneider (Foto: Anatol Kotte)

Du hast viele Frauen gespielt, die wahre Kämpfernaturen waren, die sich immer durchs Leben beißen mussten. Würdest du das auch auf dein eigenes Leben beziehen? Bist du eine Kämpfernatur?
Yes, I think so. Ich bin manchmal sogar ein wenig zu kämpferisch. Oft denke ich im Nachhinein: Warum hast du das so gemacht? Warum hast du das gesagt? Warum hast du nicht einfach gesagt: Ja, ich mache es. Ich stehe seit meinem 17. Lebensjahr auf der Bühne und habe nie etwas anderes gemacht. In dieser Zeit habe ich viele Kompromisse finden müssen und auch ein großes Selbstbewusstsein entwickelt. Ich habe immer Menschen um mich herum versammelt, die mich geliebt, beschützt und mir Stärke gegeben haben. Manchmal war ich auch arrogant – niemals böse, aber stur. Letztendlich muss man immer ein Gleichgewicht finden, um durchs Leben zu gehen.

Du bist inzwischen Dozentin an der Stage School Hamburg.
Yes, indeed. Mit großer Freude!

Wie kam es dazu?
Ich wusste nie, dass ich es so sehr lieben würde. Mein leider schon verstorbener Ehemann, mit dem ich 40 Jahre gelebt und den ich geliebt habe, war auch Dozent. Und er hat damit aufgehört, weil er es gehasst hat. Er war viel älter als ich und früher auch mein Dozent, mein Mentor. Deshalb dachte ich, ich würde es nicht mögen, auch Dozentin zu sein. Aber dann habe ich eine Masterclass an der Stage School gehalten – und später hat Thomas Gehle, der frühere Geschäftsführer vor Dennis Schulze, mich gefragt, ob ich mehr Masterclasses halten könnte. Also habe ich es merkwürdigerweise gemacht. Irgendwann wurde eine Dozentin für Liedinterpretation gesucht, also habe ich mir gedacht: I try it. Und danach sagte ich: I loved it. Also blieb ich in diesem Rahmen, obwohl ich noch in Berlin wohnte. Es ist dann immer mehr geworden, also bin ich vor fünf Jahren nach Hamburg gezogen. Das habe ich nicht bereut, obwohl ich Berlin sehr liebe und vermisse. Das Unterrichten ist jetzt der Kern meines Lebens – und ich mache es mit Leidenschaft.

Sicherlich profitieren deine Studierenden sehr von deiner Erfahrung.
Natürlich kann ich aufgrund meines Alters und meiner Erfahrung sicher viel vermitteln. Und ich hoffe, dass ich ihnen genauso viel mitgeben kann, wie sie mir geben. Sie geben mir das Gefühl, so viel weitergeben zu können. Das liebe ich. Aktuell unterrichte ich 40 Studierende. Es ist ein Geben und Nehmen.

Was gibst du ihnen mit auf den Weg? Hast du einen Master-Tipp?
Mein Master-Tipp ist: Bleibe deiner Seele treu und folge deinem Instinkt.

Das ist ein schöner und kluger Tipp.
Ich begegne so vielen Menschen in meinem Alter, die ein Leben aus pragmatischen Gründen geführt und nicht getan haben, was sie eigentlich wollten. Auch ich gebe zu, dass ich viele meiner Entscheidungen bereue. Aber in dem Moment, als ich die Entscheidung getroffen habe, war es richtig. Ich bin nicht unglücklich mit meinem Leben. Ich war mal arm, mal reich, mal einsam. Es gab eine Zeit, in der um mich herum alle starben. Das war nicht so schön. Aber Liebe war für mich immer ein Hauptthema, das über allem stand.

Helen Schneider im Film „Into The Beat“. (Foto: Steffen Junghans)

Um Liebe, die Liebe zum Tanz, geht es auch in dem Kinofilm „Into the Beat“. Darin hast du 2020 eine strenge Ballettlehrerin gespielt. Bist du gegenüber deinen Studierenden an der Stage School auch streng?
No! Bin ich gar nicht. Ich habe darüber diskutiert, wie streng meine Figur in dem Film ist. Aber der Regisseur Stefan Westerwelle wollte es so. Er lag damit goldrichtig.

Was hat dich an „Into the Beat“ gereizt?
Was ich an dem Film so toll fand, ist die Diskussion zwischen klassischem Tanz und Street Dance. Das war auch für mich ein Leben lang ein Thema. Ich wurde im klassischen Bereich mit Klavier erzogen, habe ein Stipendium für die Juilliard School bekommen und alles aus dem Fenster geschmissen, um einen völlig anderen Weg einzuschlagen. Niemand hat mir die Möglichkeit gegeben, beide Welten miteinander zu verbinden. Heutzutage ist es nicht mehr so hart getrennt, es verschmilzt langsam. Das finde ich unglaublich wichtig. In meiner Jugend gab es das nicht. Es ging nur das eine oder das andere. Es war ein Kampf. Dieses Thema in dem Film war großartig. Ich liebe die Arbeit im Filmbereich.

Film ist aber noch mal ganz anders als Theater.
Oh ja, Film ist anders. Auch Audioarbeit. Im Theater muss alles größer sein, um die Menschen in den letzten Reihen zu erreichen. Beim Film ist es intimer, weil die Kamera näher rangehen kann. Ich könnte aber nie die Frage beantworten, was ich lieber mache. Das ist, als würde man mich fragen: Willst du lieber mit einem Auto oder mit einem Boot fahren?

Die Antwort könnte lauten: Im Sommer Boot, im Winter Auto.
Ja, das trifft es sehr gut. (lacht)

Du hast vorhin deinen Umzug von Berlin nach Hamburg angesprochen. In einem früheren Interview hast du mal gesagt, dass Berlin die einzige Stadt in Deutschland ist, die dich interessiert. Spannende Schlussfrage: Hast du mittlerweile auch Interesse an Hamburg?
Natürlich! Berlin ist zwar mein Leben, aber Hamburg spielte immer eine Rolle. Denn ich habe über die Jahre viel Zeit in Hamburg verbracht. Der Anfang meiner Karriere im Plattenbereich war hier, ich habe in Hamburg an den Kammerspielen und am Altonaer Theater gespielt. Heute sage ich, dass ich zu Hause bin, wo ich bin. Als alte New Yorkerin ist Berlin für mich trotzdem besonders. Ich kehre gern zurück als Besucherin. Für „Victor/Victoria“ habe ich außerdem ein Jahr in Bremen gelebt. Das hat mir auch wahnsinnig gut gefallen. Ich hatte sogar kurz mit dem Gedanken gespielt, nicht von Berlin nach Hamburg, sondern nach Bremen zu ziehen und dann zwischen Hamburg und Bremen zu pendeln. Aber wie dem auch sei: Ich habe 18 Jahre auf dem Land gelebt. Erst in New England, dann in Frankreich. Danach wollte ich in die Großstadt. So kam ich nach Berlin. Jetzt fühle ich mich in Hamburg sehr wohl.

Interview: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".