Foto: Dominik Lapp
  by

Corona versus Kultur: Kulturschaffende zwischen Streaming und Prekariat

Seit Wochen sind die Theater geschlossen. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das Coronavirus hat das kulturelle Leben zum Stillstand gebracht. Das haben andere Krisen, nicht einmal Kriege geschafft. Denn Theater und Musik hat den Menschen immer schon geholfen, den Alltag für ein paar Stunden zu vergessen. Doch aufgrund der aktuell vorherrschenden Kontaktbeschränkungen dürfen kulturelle Veranstaltungen mit Publikum nicht stattfinden. Corona killt Kultur.

Einer ganzen Branche wurde wegen Corona mehr oder weniger ein Berufsverbot auferlegt. Etliche Künstler nutzen deshalb das Internet für Streamings, oftmals kostenlos, um weiterhin sichtbar zu sein und nicht in Vergessenheit zu geraten. Aber ist das der richtige Weg? „Die Gefahr dabei ist, dass man von uns Künstlern auch nach der Corona-Krise erwartet, dass wir kostenlos Kunst machen“, sagt Michaela Linck, die als Musicaldarstellerin und Gesangslehrerin in Bayern arbeitet. Momentan darf sie nicht mehr auf der Bühne stehen und keinen Gesangsunterricht geben. „Einige meiner Schüler unterrichte ich jetzt online, aber das setzt auch technische Versiertheit voraus, um zum Beispiel Tonverzögerungen einordnen zu können.“ Außerdem gibt sie jetzt abendliche Balkonkonzerte für ihre Nachbarn.

Kunst schafft sich in der Krise selber ab

„Das bereitet mir tatsächlich Freude, ich habe etwas zu tun und zu verschenken“, sagt Linck. „Trotzdem frage ich mich, warum Adidas gerade keine Turnschuhe verschenkt.“ Ihr Sohn könne neue Turnschuhe gerade sehr gut gebrauchen. „Leider greift die vom Staat so hoch gelobte Soforthilfe für Künstler bei mir nicht, denn ich habe weder gemietete Räume noch Personal, und einen Geschäftswagen besitze ich auch nicht.“ Trotzdem singt sie auf dem Balkon. „Die Nachbarn freuen sich, ab und zu bringt mal einer ein Sträußchen Tulpen aus dem eigenen Garten“, berichtet Michaela Linck. „Aber ich lebe auch von meiner Kunst. Und so sehr ich mich über Tulpen freue – reinbeißen kann ich in die Blumen nicht.“ Zudem bemängelt sie, dass die von der bayerischen Landesregierung 1.000-Euro-Soforthilfe für Künstler offenbar noch nicht in Kraft ist. „Soforthilfe ist der falsche Ausdruck dafür, man findet nicht mal das Antragsformular.“

Ihr Nachbar erfreut sich indes an dem vollständigen Repertoire sämtlicher Theatervorstellungen im Netz. „Er findet das super, denn er spart eine Menge Geld, hat er mir erzählt“, berichtet Michaela Linck. Doch die Sängerin fragt sich, ob es Sinn macht, dass sich Künstler so ausziehen und dass Theater ihre Kunst verschenken. „Wäre es nicht sinnvoller für unsere eigene Wertigkeit, dass wir uns zurückziehen? Sollten wir nicht zeigen, wie es aussieht, wenn keiner mehr von uns singt, spielt, tanzt, malt und schöne Geschichten schreibt?“ Den Shutdown in Zeiten von Corona also nutzen, um den Menschen die Kultur komplett zu entziehen, damit es besonders schmerzt. Die Künstlerin sagt, sie habe Angst davor, dass sich die Kunst in der Krise selber abschaffe und daraus ein Trend zur kompletten Konserve entstehe. „Hoffentlich will uns nach der Krise noch jemand live sehen, hoffentlich legt noch jemand Wert darauf, dass man nicht mit Vollplayback singt.“

Streaming-Publikum weiß Aufwand zu schätzen

Florian Albers sieht das anders. Er ist ebenfalls Musicaldarsteller, arbeitet außerdem als Pianist und betreibt eine Künstleragentur. Mehrmals pro Woche geht er mit seiner Partnerin, Tamara Peters, auf der Videoplattform Twitch live, um Musik vom heimischen Wohnzimmer in die Wohnzimmer der Zuschauer zu bringen. „Es findet sich eine Zuhörerschaft, die den Aufwand und die Liebe zur Kunst zu schätzen weiß“, sagt Albers. „Sowohl mit virtuellem Applaus und Zuspruch, aber eben auch mit einem angemessenen Trinkgeld oder einem nachträglichen Eintritt.“

Tamara Peters und Florian Albers (Foto: Eyes Open Photography)

Vor allem Musicalfans fallen Florian Albers positiv auf, „weil sie in dieser Krise extreme Empathie mit den Künstlern zeigen und ihre Sehnsucht nach Livemusik und Darbietung offen kommunizieren.“ Mit seinem Stream erreiche er außerdem auch Leute, die sonst gar nicht zu Konzerten kommen, weil sie es aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen nicht können. „Oder weil sie zu weit vom Veranstaltungsort entfernt wohnen“, weiß der vielseitige Künstler.

Kein schneller Geldregen, aber neue Geschäftsfelder durch Streaming

„Wer auf einen schnellen Geldsegen wartet, wartet vergeblich“, sagt Florian Albers, angesprochen auf die Monetarisierung von Livestreams. „Ich glaube, dass das bei allen Dienstleistungen erst mal so ist.“ Es ginge dabei vor allem darum, sich mit einem neuen Vertriebsweg auseinanderzusetzen, ihn zu analysieren und sich letztlich zu eigen zu machen. „Dafür braucht man Zeit. Zeit, die wir jetzt auch alle haben und die sich lohnen wird“, gibt er sich überzeugt.

Durch die Corona-Krise sind Florian Albers und seiner Partnerin wichtige Sommerengagements weggebrochen, der finanzielle Verlust bewegt sich dabei im fünfstelligen Bereich. „Doch nach vier Wochen Livestreams kann ich ein erfreuliches Fazit ziehen, denn wir konnten damit zumindest ein Einkommen erzielen, das einen Teil unserer Lebenshaltungskosten deckt.“ Außerdem habe sich durch die Livestreams ein neues Geschäftsfeld aufgetan: „Einige Firmen, Seniorenresidenzen und Pflegedienste wünschen sich Privatstreams von uns mit Wunschliedern ihrer Mitarbeiter.“

Dass Livestreams nie ein Livekonzert ersetzen werden, darüber ist sich Florian Albers im Klaren. „Aber man vergleicht hier Äpfel mit Birnen. Es gibt bei Livestreams nun mal andere Methoden zur Monetarisierung, die das Internet seit Jahren schon praktiziert. Es gibt eine andere Intimität und es gibt andere Anforderungen, aber es gibt immer noch unsere Kunst und unsere Zuhörer. Wenn sich das Medium ändert, kann man Leidenschaft und Emotionen auch über eine Internetleitung versenden. Man braucht einfach nur andere Tools.“

Corona-Maßnahmen treffen Violinduo hart

Marie-Luise Dingler teilt sich mit ihrem Bruder Christoph seit ihrem 12. Lebensjahr die Bühne. Als Violinduo sind sie unter dem Namen „The Twiolins“ auf internationalen Bühnen unterwegs. „Uns treffen die Corona-Maßnahmen schon sehr hart, da natürlich unser Einkommen wegbricht und wir aktuell noch nicht absehen können, wann es weitergeht“, berichtet Marie-Luise Dingler. Für das Duo bedeutet das nicht nur monetäre Verluste. „Viel Arbeit, die wird in die Konzertakquise, den Kontaktaufbau, die Erarbeitung des eigenen Rufs gesteckt haben, wurde mit einem Schlag ausgelöscht.“ Doch die anfangs deprimierten Künstler wurden von ihren Fans aufgefangen: „Sie haben fleißig CDs und Fanartikel gekauft, einige haben sogar größere Beiträge gespendet.“

Zu kostenlosen Streamings hat Marie-Luise Dingler eine klare Meinung: „Natürlich kann man mal etwas kostenlos anbieten, um gute Laune zu verbreiten oder Dankbarkeit zu zeigen. Aber in der Masse, wie es jetzt durch den Corona-Lockdown passiert, entwerten sich viele Künstler einfach selbst, das ist einfach nur schade.“ Vorstellen könne sie sich zwar auch, mal etwas zu streamen, doch müsse dafür technisch noch einiges geregelt werden. „Allerdings stellen wir sowieso immer wieder etwas von uns kostenlos ins Netz, um bekannt zu werden“, sagt die Violinistin. „Aber wir brennen doch nur aus, wenn wir jetzt ganze Konzerte kostenlos ins Netz hauen.“

Ahrensburger Musicalproduzent hat es voll erwischt

„Wir werden unter dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz massiv leiden“, sagt Musicalproduzent Hauke Wendt. „Uns haben die Erlasse der Landesregierung voll erwischt.“ Wendt betreibt mit seiner Ehefrau, Jacqui Dunnley-Wendt, die Musicalschule Ahrensburg und die Produktionsfirma Musical Creations Entertainment. „Wir sind nicht nur selbst Produzenten, sondern auch als Dienstleister für andere Produzenten aktiv“, erzählt der Unternehmer aus Schleswig-Holstein.

Jacqui Dunnley-Wendt und Hauke Wendt (Foto: Niko Formanek)

„Während es ursprünglich eine bewusste Entscheidung von uns war, das wirtschaftliche Risiko durch den Aufbau mehrerer Standbeine zu minimieren, hat es uns in dieser Situation nichts gebracht, da alle Geschäftsbereiche zum Erliegen gebracht wurden“, so Wendt. Dabei sah dieses Jahr noch Anfang März sehr vielversprechend aus: Hauke Wendt und seine Frau waren mitten in den Vorbereitungen für die Arenatourneen „Disney in Concert“, „Paw Patrol“ und „Abbamania“. Doch dann kam die Zwangspause.

„Verzichtbar, unnötig und nicht systemrelevant“

„Die zunächst einsetzende Schockstarre wurde schnell verdrängt von dem Sprachjargon der viel zu Wort kommenden Politiker, Virologen und anderer Experten: unsere Arbeit sei verzichtbar, unnötig und nicht systemrelevant“, ärgert sich Hauke Wendt. Eine Sicht, die sich auch heute noch quer durch die sozialen Netzwerke zieht. „Zu keiner Zeit habe ich bislang von Seiten der Kunst- und Kulturschaffenden sowie der Entertainment-Industrie gehört, dass man sich nicht hinter die Entscheidungen unserer Gesellschaft stellen würde – auch wenn sie die eigene Existenz gefährden“, so Wendt.

Soforthilfen reichen nicht aus oder greifen erst gar nicht

Er erachte es als selbstverständlich, dass die Kulturschaffenden ihre Tätigkeit zum Wohl der Gesellschaft vorübergehend einstellen. „Aber als genauso selbstverständlich erwarte ich, dass man uns den finanziellen Schaden kompensiert.“ Davon allerdings sei man weit entfernt. Aufgrund der Unternehmensgröße würden sich die Wendts für 9.000 Euro Soforthilfe qualifizieren, die sie drei Monate über Wasser halten soll. „Aber das würde nicht einmal die Mietkosten abdecken, die unser Unternehmen zu leisten hat“, resümiert Hauke Wendt. Beim Landesamt für soziale Dienste des Landes Schleswig-Holstein hat Hauke Wendt deshalb nachgefragt, ob sein Unternehmen auf Schadenersatz hoffen kann. Die Antwort war ernüchternd: nein. „Das ist bitter, weil wir kein Geld verdienen dürfen und es niemanden so richtig interessiert.“

Im Sinne des Allgemeinwohls wurde den Kulturschaffenden ein Berufsverbot auferlegt, aber der daraus resultierenden Verantwortung wird nicht ausreichend nachgekommen, weil die Soforthilfen nicht ausreichen oder bei etlichen Künstlern gar nicht greifen, da man die Hilfen an zu viele Bedingungen geknüpft hat.

Erhaltung von Kunst und Kultur ist notwendig

„Die Erhaltung von Kunst und Kultur ist zwingend notwendig und gehört zu unserem Leben“, sagt Lukas Gerber. „Dabei geht es nicht um die Freizeitgestaltung, sondern um den Erhalt von wichtigen Arbeitsplätzen und unserer kulturellen Identität.“ Beruflich betroffen ist der Student der Musiktheaterwissenschaft durch zwei abgesagte Tourneen, für die er als Tourleiter gearbeitet hat. „Mich trifft das Veranstaltungsverbot zwar im Herzen stark und durchaus auch finanziell, aber bedingt durch meinen Status als Student nicht auch nur annähernd vergleichsweise so heftig wie die meisten Künstler.“

Lukas Gerber bemängelt vor allem, dass private Theater und Veranstalter in Zeiten von Corona nicht ausreichend unterstützt werden. „Keine Firma und kein Theater hat diese Krise verschuldet, und somit müssen auch für private Häuser, Veranstalter und Kulturschaffende genügend Hilfen zur Verfügung gestellt werden.“ Auch sehe er durch die vielen kostenlosen Streamingangebote die Kultur in Gefahr. „Streamings sind durchaus eine nette Abwechslung, aber sie können das Live-Erlebnis nicht ersetzen“, so Gerber. „Vor allem aber frage ich mich, wie man den Menschen nach der Krise noch verständlich machen möchte, dass sie für Kunst und Kultur bezahlen müssen.“

Lukas Gerber (Foto: Michael Böhmländer)

Abgefilmtes Theater hat nur historischen Wert

„Ich glaube nicht, dass die Theater durch Streamings einen Schaden erleiden, wenn sie filmisch archivierte Aufführungen jetzt online zu Verfügung stellen. Abgefilmtes Theater hat ohnehin nur historischen Wert“, hält der Schauspieler Patrick Heppt dagegen. „Anders sieht es aus, wenn Theater Vorstellungen in Echtzeit ins Netz verlegen und dann mit der Situation des Livestreamings auch ästhetisch umgehen. Das wäre durchaus ein interessanter Weg, und es passiert auch. Ob allerdings der Einsatz von VR-Brillen dafür wirklich ausreicht, bezweifle ich. Vermutlich ist jedes Computerspiel interessanter. Und das war auch vor Covid-19 schon eine Kunstform, die ihr Publikum fand.“

Patrick Heppt ist sich sicher, dass Theater nur im Moment, in der Einheit von Raum und Zeit funktioniert. „Aber das wäre sicherlich ebenso im Netz möglich“, sagt er. „Wir bewegen uns auch im Alltag viele Stunden in diesem virtuellen Raum. Es ist also konsequent, diesen auch künstlerisch zu nutzen.“ Trotzdem müsse immer erst Zeit vergehen, um Ereignisse zu reflektieren. „Wenn die Theater jetzt blindlings Content produzieren, schaffen sie sich am effektivsten selbst ab“, so Heppt.

Glück im Unglück?

Betroffen von den Veranstaltungsabsagen ist auch der Musicaldarsteller Marcus G. Kulp. „Ich hätte diesen Sommer eigentlich im Musical ‚Robin Hood‘ in Fulda auf der Bühne gestanden“, erzählt er. Doch die Uraufführung des brandneuen Musicals mit der Musik von Chris de Burgh und Dennis Martin wurde aufgrund der Corona-Pandemie ins Jahr 2021 verschoben. „Unser Veranstalter hat sich aber absolut vorbildblich verhalten“, berichtet Kulp. „Für uns wurde Kurzarbeit angemeldet, so dass wir die Anstellungszeit über zumindest nicht völlig leer ausgehen und auch sozial abgesichert sind.“ Ebenso wolle der Veranstalter, die Firma Spotlight Musicals, die Zusammenarbeit im nächsten Jahr bei der Uraufführung weiterführen. „Weggebrochen sind mir aber leider mehrere Lesungen, Workshops und Konzerte auf selbstständiger Basis.“

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".