„Der kleine Horrorladen“ (Foto: Julia Lormis)
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(F)astreines Vergnügen: „Der kleine Horrorladen“ in Bad Gandersheim

Gleich drei wichtige Ankündigungen gibt es für das Publikum im dem Dom vorgelagerten, amphitheatralischen Halbrund am 12. August 2022. Erstens: Der Abend wird aufgezeichnet; ein Team vom Norddeutschen Rundfunk ist vor Ort. Zweitens: In einer Premiere für die Festspiele wird die Darbietung audiodeskriptiv begleitet. Das heißt, blinden beziehungsweise sehbehinderten Menschen wird über Kopfhörer ein Live-Kommentar zur Verfügung gestellt; allein an diesem Abend profitiert davon ein gutes Dutzend Menschen. Eine äußerst begrüßenswerte Neuerung, die hoffentlich Schule machen wird. Drittens: Für die fleischfressende Pflanze Audrey II ist kurzfristig Frank Bahrenberg für den erkrankten Lemuel Pitts eingesprungen. Äußerst kurzfristig, denn mit nur einer Ensemble-Probe im Rücken ruft Bahrenberg an diesem Abend Beachtliches ab. Doch dazu später mehr.

„Der kleine Horrorladen“ aus der Feder von Alan Menken (Musik) und Howard Ashman (Libretto) feiert 2022 sage und schreibe seinen 40. Geburtstag; seine Uraufführung erlebte das Musical 1982 in New York, die deutsche Erstaufführung ging vier Jahre später über die Bühne. Dass dieser Stoff um Seymour Krelborn, den reichlich tollpatschigen Mitarbeiter eines heruntergekommenen Vorstadt-Blumenladens, der durch eine einzigartige, fleischfressende Pflanze höchst zweifelhaften Ruhm erlangt, irgendeinem halbwegs musiktheateraffinen Menschen bisher verborgen geblieben ist, erscheint kaum vorstellbar – erst recht vor dem Hintergrund seiner Verfilmung von 1986. Wie gut er darüber hinaus nämlich gealtert ist, beweist sich auch im Halbrund der Bad Gandersheimer Domfestspiele. Dabei sind die Voraussetzungen dafür nur bedingt gegeben.

Bärenanteil am letztlich gelungenen Abend hat eine Handvoll Musiker – auch wenn das nötige, letzte Quäntchen Druck im Bassbereich von der Tontechnik wohlweislich einer höheren Verständlichkeit geopfert wird: Stephan Genze, Hans-Dieter Lorenz, Michael Siskov und Martin Werner beweisen unter ihrem Musikalischen Leiter Ferdinand von Seebach gleich zehn gute Händchen fürs richtige Tempo, treffen immer den richtigen Ton und reichern die bekannten Arrangements wiederholt durch eigene Ideen an – ein frivoles Pfeifen vom Synthesizer gleich im Eröffnungssong gehört dazu. Ob es Crystal (Marion Wulf), Ronnette (Maja Dickmann) und Chiffon (Pauline Schubert) gilt – den drei Erzählerinnen, die zu dessen Klängen einen fragwürdigen Treppenabgang zur Showtreppe adeln?

Fragwürdig ist ohnehin so einiges an diesem Abend, genauer: so manche Entscheidung des künstlerischen Leitungsteams. Hier nur eine Auswahl: Sandra Becker (Ausstattung) hat von Bühnenlinks nach -rechts einen kleinen Hindernis-Parcours aus Blöcken und Tritten gebaut, quasi eine Reihe invertierter Schlaglöcher, durch die sich vor allem Audrey (Lina Gerlitz) ihren Weg in Mr. Mushniks Blumenladen zurechtbalanciert, was in der Wiederholung zunehmend komisch wirkt – wenn auch unfreiwillig. Mit Miriam Schwan ist die Paraderolle des Zahnarztes Orin, Audreys „halbsadistischem“ Freund, weiblich besetzt. Doch allen unzweifelhaft dringend nötigen Gender-Debatten zum Trotz und den unvermeidlichen Shitstorm antizipierend: „Jetzt“, sein Ringen mit dem Tod aus der Lachgasflasche, eigentlich ein komödiantisches Kabinettstückchen, gerät tatsächlich zur schmerzhaften Operation am offenen Nerv: Wo sonst der Sprechgesang organisch vom ungläubigen zunehmend ins panische Lachen übergeht, wird Schwan stimmlich in höchste Höhen gezwungen – so manche Pointe bleibt da ob mangelnder Verständlichkeit auf der Strecke, bis Orin ohne fremdes Zutun zur Strecke gebracht worden ist. Frank Bahrenberg schließlich sitzt – rechtzeitig zu seinem ersten Solo „Gib’s mir“ – höchstselbst als Audrey II auf der Bühne; auf das vertraute Riesenmaul der fleischfressenden Pflanze wird verzichtet. Das ihrem weiteren Wachstum geopferte, soziale Umfeld Seymours verschwindet entsprechend zwischen gelüpften Rockschößen.

Ob es sich bei alldem um bewusste künstlerische Entscheidungen handelt oder ob sie mit Blick aufs Budget getroffen wurden, sei dahingestellt – dass im Kulturbetrieb allenthalben, erst recht in Corona- und Krisenzeiten, der schmale Grat zwischen prunkvoll und preiswert beschritten werden muss, liegt in der Natur der Sache. Jedenfalls, und dies verwandelt jegliche noch so große Verstimmung beziehungsweise -störung in (f)astreines Vergnügen, machen alle spielentscheidenden Ensemblemitglieder das Beste daraus: Lina Gerlitz gibt eine absolut berührende Version von „Im Grünen irgendwo“ zum Besten; Lukas Witzels taffe Töne zerstören ein ums andere Mal gar um ein Haar die schöne Illusion von Seymours liebenswerter Schrulligkeit; Frank Bahrenberg grimassiert und growlt sich mit deutlich sicht- und hörbarer Lust durch seine plötzliche Premiere.

Ihnen und allen Beteiligten auf der Bühne (ob verborgen oder verbaut) gebührt der langanhaltende Applaus zu recht – die Standing Ovations indes verbucht der Rezensent lieber aufs Konto von Menken und Ashman. Das Stück steht für sich selbst – und braucht doch jeden, der dafür einsteht.

Text: Jan Hendrik Buchholz

Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.