Scheinwerfer (Foto: Dominik Lapp)
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Spannendes Reading: „Sherlock Holmes 2.0“ in Hamburg

So viel vorweg: In den besten Momenten vergisst man an diesem Abend im Hamburger Grünspan, dass es sich bei der Darbietung lediglich um eine erste öffentliche Lesung des Musicals „Sherlock Holmes 2.0“ handelt – und nicht etwa schon die Premiere. So leidenschaftlich wirft sich manch einer aus dem Cast in die Rolle, so ausgefeilt wirken bereits die Chorsätze. Das grenzt an Hexerei und ist dadurch durchaus passend, geht es doch in diesem Stück viel um (schwarze) Magie und (faulen) Zauber.

Die „2.0“ im Titel verdankt sich dem Umstand, dass zwei Generationen des weltberühmten Ermittlerduos aufeinandertreffen: Da wäre zunächst das Original (Robin Brosch als Sherlock sen., Timmy Haberger als Watson sen.), dem seine Ableger (John Vooijs als Sherlock jun., Jan Schwartzkopff als Watson jun.) gegenüberstehen. Und oft genug auch entgegen. Denn zwischen den beiden Generationen entbrennt ein heftiger Wettstreit, als im britischen Museum Londons ein Attentat verübt wird, ausgerechnet auf den ägyptischen Premier. Der Wettstreit um eine möglichst rasche Lösung des Falles.

Dabei scheint das alte Eisen seinen Zöglingen stets eine Spürnasenlänge voraus zu sein, während letztere eher vom Regen über die Traufe ins Fettnäpfchen stolpern: Von einem unsichtbaren Feind gehetzt, werden sie in einer Opiumhöhle fast vergiftet. Und dann ist da noch Catherine Mason (Merle Hoch), Tochter der Museumsleiterin Ellen (Stephanie Tschöppe), die Sherlock jun. schöne Augen macht, sie aber vorerst unter ihrem bösen Blick, später dann mit einem spöttischen Augenzwinkern kaschiert. Immer wieder sind die Väter zur Stelle, um ihre Brut zu beschützen – bis sie sich auf während der Darbietung eines Zauberers im wahrsten Sinne des Wortes in Luft auflösen.

Was zunächst anmutet wie ein misslungener Trick, wird sehr schnell bitterer Ernst: Ein alter Feind hat seine Hände im Spiel und die Senioren in der Hand. Plötzlich sind die etwas zu sorglosen Jungspunde auf sich allein gestellt, denn Scotland Yard, personifiziert durch Inspektor Lestrade (Detlef Leistenschneider) und Major Strong (Ingolf Unterrainer) sind nicht nur nicht willens, ihnen zu helfen: Sie betrachten die Absenz der erfolgsverwöhnten Väter eher als befreiende Wohltat bei den Ermittlungen, die naturgemäß in eine vollkommen falsche Richtung laufen.

Was sich über die Musik aus der Feder von Christian Heckelsmüller, der selbst in aller Bescheidenheit die Band vom Keyboard aus führt, nicht sagen lässt. Im Gegenteil: Sie ist gespickt mit vielen Überraschungen, hakt dabei diverse „Musical-Must-Haves“ ab, bildet die unterschiedlichsten kulturellen Einflüsse nach, ohne ihren originären Anspruch jemals gänzlich zu verleugnen oder zu verlieren. Einige Höhepunkte sollen an dieser Stelle exemplarisch hervorgehoben werden: Da wäre zunächst einmal die erste Ballade des Abends, von John Vooijs meisterlich vorgetragen. Bei den ersten Zeilen drückt einen noch das Klischee in den Sitz („Etwas sucht in mir. / Klopft an meine Tür.“), dann entpuppt sich die Nummer als durchkomponiertes Kleinod mit jazziger Strophe und explosivem Refrain. Charlie Serrano brilliert als Mr. Kuryamai, Besitzer des „Golden Triangle“, in seinem Lobgesang ans Opium. Und mit dem Einstieg in den zweiten Akt schlägt die Stunde des Ensembles. Bei derart vielen starken Stimmen auf der Bühne kann es sich Heckelsmüller sogar leisten, die Bandbegleitung zwischendurch auch einfach mal wegzuarrangieren: Plötzlich steht ein vielschichtiger Chorsatz nackt, darum aber nicht weniger strahlend im Raum. Ein gelungener Kunstgriff, der die Besucher nach der Pause im Handumdrehen wieder abholt.

Und wo wir gerade bei starken Stimmen sind, sprechen wir doch gleich von stimmlichen Stärken. Diese sind naturgemäß variabel, weil persönlicher Natur. Doch auch hier zeigt sich das Geschick Heckelsmüllers, jedes individuelle Timbre in den passenden Song einzubetten. Robin Brosch und Timmy Haberger dürfen vergleichsweise stimmschonend über weite Strecken dem Sprechgesang frönen, Nivaldo Allves suhlt sich als Aleister Crowley in orientalischen Klängen, und Stephanie Tschöppe darf ihr dramatisches Vibrato voll entfalten. Ohne ihr Können in Abrede stellen zu wollen: Man muss diesen Stil à la Kunze/Levay schon sehr mögen, sonst wirkt er, wie in diesem Fall, schnell strapaziös. Erstaunlich, weil unerwartet schwach bleibt Jan Schwartzkopff, der bei einer zu erhoffenden Uraufführung mimisch und stimmlich mehr im Moment bleiben sollte.

Doch dies ist Jammern auf höchstem Niveau. Wenn auch das Buch an einigen Stellen gewisse Längen enthält, an anderen wieder den intellektuellen Witz der Wortgefechte zwischen Holmes und Watson vermissen lässt (während dieser auf der „Jugend-Ebene“ äußerst gut funktioniert): Das Stück könnte wirklich zum Erfolg werden, und zu gönnen wäre es dem Stoff ebenso wie dem sympathischen Kreativteam.

Text: Jan Hendrik Buchholz

Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.