„Chicago“ Foto: Dennis Mundkowski
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Fehlerteufel im Detail: „Chicago“ in Hamburg

Mangelnden Mut kann man dem Hamburger First Stage Theater wahrlich nicht vorwerfen. Im Gegenteil streckt man sich bei der Stückauswahl gern nach der Decke – erst recht, wenn es um die Abschlussprojekte der Absolventen der Stage School Hamburg geht: Nach „42nd Street“ im letzten Jahr folgt nun also „Chicago“, das (mit immerhin 6 Tony Awards) ausgezeichnete Musical-Schwergewicht von John Kander (Musik), Bob Fosse (Buch) und Fred Ebb (Gesangstexte, Buch). Die Tatsache, dass dieses Stück vor allem durch die kongeniale Verfilmung Rob Marshalls zum popkulturellen Allgemeingut wurde, macht die Herausforderung nur größer: Catherine Zeta-Jones, Renée Zellweger und Richard Gere – dieses trio infernale muss man erstmal aus den Köpfen der Zuschauer bekommen. Wenn man denn will und nicht umgekehrt sogar die Nähe zum Streifen sucht. Zwischen diesen beiden Polen strebt die Hamburger Inszenierung ganz augenscheinlich nach dem Mittelweg.

Ab durch die Mitte geht demgegenüber Roxie Heart, die schlecht mit Zurückweisungen leben kann. Diese Tatsache bezahlt ihr Liebhaber Fred Casely mit dem Leben. Im Frauenknast begegnet sie vergleichbaren Schicksalen – vor allem in Gestalt ihrer Zellengenossin Velma Kelly – und der findigen Vermittlerin Matron Mama Morton, die den Kontakt zum korrupten Staranwalt Billy Flynn herstellt. Der strickt eine herzzerreißende Geschichte um seine Klientin, die erst die Presse und dann die öffentliche Meinung für sie einnimmt. Die große Stadt lechzt indes immer bloß nach dem nächsten, großen Skandal: So schnell das Bad in der Menge eingelassen wurde, so schnell ist es wieder versiegt. Velma und Roxie beschließen, ihre kreativen Kräfte und verwegenen Vergangenheiten in einer gemeinsamen Bühnenkarriere zu bündeln.

Um die eigene Karriere geht es gleichfalls den 23 Absolventen der Stage School, von denen sich naturgemäß im Rahmen eines, nur wenige Hauptrollen vorsehenden Stückes nur eine Handvoll in zufriedenstellendem Maße präsentieren dürfen. Wer Renée Zellwegers Roxie liebt, dem dürfte Sharon Berlinghoffs Verkörperung dieser Rolle gefallen. Was sie an gesanglicher Brillianz vermissen lässt, macht sie durch ihre schauspielerische Leistung mehr als wett. Spielend schafft sie die Wege von der eiskalten Mörderin zum naiven Blondchen, vom derben Bauchmenschen zum sittsamen Opfer und wieder zurück. Schön wäre es, und dies gilt ebenso für ihre Leidensgenossen, wenn das Kostüm (Dennis Schulze und Huong Schulze-Steffen) bei diesen Verwandlungen ein wenig hilfreicher wäre. Natürlich, es ist alles eine Frage des Budgets. Dennoch darf’s beizeiten gern ein wenig mehr sein: Strapse mögen beim Zellenblock-Tango eine gute Figur machen, aber spätestens im Gerichtssaal dürfte man den Mädchen gern etwas zum Anziehen geben. Irgendwo im Fundus wird sich bestimmt ein Mantel finden, zur Not täte es, im Falle Roxies Vernehmung, ein dezenter Kittel mit Spitzenbesatz. Das hat nichts mit Prüderie zu tun, es wäre schlicht Handlung und Spielort angemessen, in einem Wort: passend.

Als durchaus passend erweist sich die Besetzung der Velma Kelly mit Hannah Leser, nicht nur, weil sie diese Rolle bereits mit 17 Jahren in der High School verkörperte: Sie ist ganz einfach der richtige Typ und liefert gesanglich am Premierenabend die überzeugendste Leistung ab. Zugegeben, die Songs könnten ein wenig mehr verr(a)uchten Jazz vertragen. Dass Lesers Stimmbänder ein wenig mit angezogener Handbremse schwingen, heißt andererseits und folgerichtig: Da geht noch was. Niklas Lundßiens Billy ist quasi die Schnittmenge seiner beiden Mandantinnen, spricht: gesanglich und darstellerisch grundsolide, ebenso wie Till Jochheims in der Rolle des gehörnten Ehemannes Amos Heart. Der Gefahr, dass dieser Mr. Zellophan tatsächlich durchsichtig, ja: unsichtbar bleibt, entgeht er mit seinem finalen Abgang. Eine Gefahr, die für Arthur Polle in der dankbaren Rolle der Reporterin Mary Sunshine gar nicht erst aufkommt: Mann in Frauenklamotten geht immer noch und wird erstaunlicherweise wohl immer gehen – trotz auf die Dauer leider etwas strapaziösem Falsettgesang. Farblos hingegen bleibt Melanie Kastaun als Matron Mama Morton – zu sehr verlässt sie sich auf ihren tadellosen Gesang.

Erstaunlich facettenreich, erfreulich gut abgemischt und angenehm kompakt agiert dagegen die vierköpfige „Chicago“-Band (Musikalische Leitung: Hauke Wendt); Stage Manager Maximilian Reinhard zeichnet, gemeinsam mit Deliah Stuker, für die (stellenweise arg) schnörkellose Übersetzung verantwortlich. Manchmal steckt der Fehlerteufel eben doch im Detail, dieser Umstand tritt besonders deutlich in Jaqui Dunnley-Wendts Regie zutage: Wenn Pistolenschüsse und Maschinengewehrsalven durchs Schlagzeug markiert werden, wäre gut daran getan, die Schauspielerin auf den Instrumentalisten reagieren zu lassen, um einen sauberen „Rückstoß“ zu gewährleisten. So allerdings quetscht Berlinghoff die Kugeln gleichsam aus der Waffe heraus, was für unfreiwillige Lacher im Publikum sorgt – das nach dem Finale seinerseits trotz allem pflichtschuldige Applaussalven spendet.

Text: Jan Hendrik Buchholz

Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.