„42nd Street“ Foto: Dennis Mundkowski
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Tanzmusical: „42nd Street“ in Hamburg

Manchmal sollte man einfach den Deckel drauf machen. Auf den Flügel. Bei Natalie Weiss’ Solokonzert im First Stage Theater Hamburg war dies schlechterdings nicht der Fall – bei „42nd Street“, dem Stage-School-Absolventenprojekt 2016, merkwürdigerweise schon. Man gönnt diesem optischen Feuerwerk aus der Feder von Harry Warren (Musik) und Al Dubin (Texte) gerade einmal die 88 Tasten. Und ein Schlagzeug in einem Acryl Panel. Beides auf der Bühne und in Rampennähe. Um dieses Arrangement eine Herausforderung zu nennen, bedarf es keines Soundspezialisten – wohl aber, um sie zu bewältigen. Schmerzlich vermisst man ihn an diesem Abend: Scheinbar musste das Tonpult aufgrund eines Krankheitsfalls kurzfristig neu besetzt werden. Das würde einiges erklären, und der nachfolgend geschilderte Höreindruck wäre für die gewohnte Klangqualität der Produktion kaum maßgeblich.

Erklären würde es, warum man sich in der Ouvertüre derart konzentrieren muss, um im treibenden Beat die Pianoläufe auszumachen – erst recht, wenn hier das komplette Ensemble steppend die Bühne stürmt. Erklären würde es ebenso, warum den jungen Bühnendarstellern zusätzliche Knüppel zwischen die bewegungsfreudigen Beine geworfen werden, wenngleich sich ihre Stimmen tapfer und über weiteste Strecken intonationsstark gegen das widrige Abstimmungsverhältnis behaupten: Kaum jemals ist ein Mikro offen, wenn es gebraucht wird. Am schmerzlichsten tritt dies zutage, wenn licht- und bühnentechnisch ein großer Auftritt vorbereitet wird – etwa der größte, Peggy Sawyers Interpretation des Titelsongs, die gleichermaßen das Finale des zweiten Aktes von „42nd Street“ einleitet und die Schlussnummer des fiktiven Musicals „Pretty Lady“, dessen Erprobung zur Bühnenreife der Handlung ihren Rahmen gibt: Die Band beginnt, der Spott geht an, Hauptdarstellerin Kim Lemmenmeier setzt ein – und ist nicht zu hören.

Diese drei Sekunden Latenz zwischen offenem Mund und offenem Mikrofon werden zum ärgerlichen „Running Gag“ und begleitet von Tonausfällen selbst während des Gesangs. Unerwartete Umbesetzung hin, eiliges Einspringen her: Es ist nicht primär der Hörgenuss, es sind die Darbietungen, die darunter zu leiden haben. Darbietungen von „Debütanten“, wohlgemerkt – was es doppelt schade macht. Besonders hart trifft es, neben der weiblichen Hauptrolle, Lara Ernemanns erfrischend eigensinnige Verkörperung von Ann Reilly. Maximilian Reinhards spröden Spitzen, die er ausgerechnet im Evergreen „Die Melodie des Broadway“ in seiner Rolle als Regisseur Julian Marsh zu Gehör bringt, hätten ein wenig mehr Hall unzweifelhaft gut getan, wohingegen Enrico Treuse als Abner Dillon erst gar keine technische Verstärkung bräuchte. In diesem besonderen Fall ist das nur bedingt als Kompliment gemeint: Dass Dillon mit einer 100.000-Dollar-Einlage der Hauptfinanzier von „Pretty Lady“ ist und daher vermeintlich am Set die Hosen anhat heißt nicht, dass es dafür eine dynamische Entsprechung bräuchte. Doch Treuse tönt und tappt gravitätisch herum, erst in der zweiten Hälfte gönnt er sich und seinem Spiel erfreuliche Nuancen.

Bis hierhin wäre noch alles durch den Technik-Tausch erklärbar – darum muss sich der Ensemble- Älteste den Schuh nicht anziehen, sondern darf ihn gleich weiterreichen. Die eigentliche Achillesferse des Abends liegt ohnedies woanders. Sicher: „42nd Street“ ist ein Tanzmusical. Dass hier die Handlung zugunsten des optischen Geschehens zurücktritt heißt jedoch nicht, dass es keine Charakter zu formen gäbe, um dem Abend Charakter zu verleihen. Ihr Know-how als Choreografin bringt Jacqueline Dunnley-Wendt erschöpfend auf die Bühne – leider erschöpft sich darin weitestgehend ihre Regiearbeit. Sobald nicht getanzt wird, werden die Bewegungen schnell hölzern, am augenfälligsten in der bis zum Abwinken exerzierten „Jesus Christ Pose“: Egal ob raumgreifende Vorstellung eines Startenors (Dennis Schulze als Billy Lawlor), exaltiertes Gebaren einer Diva (Sarah Julia Evertz als Dorothy Brock) oder als Gebärde schierer Euphorie bzw. Ratlosigkeit (Alexander Plein als Bert Berry): Die Arme werden grotesk gestreckt – gen Himmel oder seitwärts. Die anfängliche Hoffnung, es handle sich, im Falle von Evertz’ Darbietung, um eine bewusst gestische Überzeichnung, die dem gekünstelten Auftreten der Brock eine unfreiwillig komische Note geben soll, wird schnell enttäuscht.

Glanzmomente blitzen mithin immer dann auf, wenn dieses enge Korsett gesprengt wird. Etwa, wenn Peggy Sawyer mit ihrem Regisseur den Bühnenkuss probt. Oder wenn Dennis Schulze das Finale des ersten Aktes eröffnet. Dazwischen gibt es viel Wollen zu erleben – allerdings muss dieses Wollen geformt und geführt werden, damit es Können wird. Schließlich stehen die jungen Darsteller zwar am Ende ihrer Ausbildung, doch erst am Anfang ihrer Bühnenpraxis. Dass sie sich an diesem sehr speziellen Abend allen Widrigkeiten zum Trotz behaupten, dass sie, von allen guten Geistern verlassen, ihr Publikum begeistern, vergrößert im Umkehrschluss nur ihre Leistung. Dem ambitionierten Haus in der Hamburger Thedestraße indes hat „42nd Street“ – ohne Stammbesetzung – zum ersten Mal Grenzen aufgezeigt. Das ist nicht schlimm. Es sollte lediglich dazu anhalten, diese Grenzen auszuloten, bevor man daran geht, über sich hinauszuwachsen. Das will der Bühnennachwuchs schließlich auch. Also Schwamm drüber! Und Deckel drauf.

Text: Jan Hendrik Buchholz

Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.