Chris Murray (Foto: Mirco Wallat, musicalsessen.de)
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Interview mit Chris Murray: „Musical ist die lebendigste Form des Musiktheaters“

Chris Murray wurde in Braunschweig geboren und wuchs zweisprachig in Berlin und New York auf. Sein Musicaldebüt in Deutschland feierte er 1997 als Bouquet in der Hamburger Inszenierung von „Das Phantom der Oper“. Mittlerweile zählt er zu den profiliertesten Darstellern in der deutschen Musicalszene, spielte dort zahlreiche Charakterrollen und sang in der Oper. Aktuell steht er als Jakob Fugger im neuen Musical „Herz aus Gold“ in Augsburg auf der Bühne. Im Interview spricht er über dieses neue Engagement, blickt aber auch auf Vergangenes zurück.

Ein fest entschlossener Blick unter einer kostbar bestickten, goldfarbenen Haube: So hat Albrecht Dürer um das Jahr 1519 Jakob Fugger porträtiert. Aber wie porträtiert Chris Murray den berühmten Augsburger Handelsherrn?
Genau so. Aber ich glaube, er war ein Visionär in der Art von Steve Jobs. Er hat die Idee der doppelten Buchführung aus Venedig nach Deutschland mitgebracht und hier in unvergleichbares Imperium aufgebaut, das Augsburg zu dem Augsburg gemacht hat, was es heute ist. Es wurde zum Zentrum der damaligen Macht: Kaiser und Könige haben sich hier die Klinke in die Hand gegeben. Fugger ist nachweislich der reichste Mensch der Welt geworden und hat es aufgebaut, von dem noch viele nachfolgenden Generationen zehrten. Durch Dreistigkeit, Cleverness und schlaues Handeln hat er sich etwas aufgebaut. Aber er war ein Visionär und ich denke, das wird in meinem Porträt gut sichtbar.

Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie Jakob Fugger darstellen?
Der Weg zwischen Fugger und dem Publikum und zwischen Fugger und mir muss kurz sein. Deshalb habe ich für die Rolle zehn Kilo abgenommen und meine Haare geschnitten. Es ist so lange her und wir wissen so wenig über den Menschen Fugger, dass ich den Weg kurzhalten möchte, damit mir das Publikum den Fugger auch abnimmt.

Augsburg ist Fugger-Stadt. Jetzt gibt es ein Fugger-Musical. Besteht da nicht auch die Gefahr, mit so einem Musical in den kommerziellen Kitsch abzudriften? Man könnte fast meinen, jede Stadt lässt sich zu einem Jubiläum ein Theaterstück schreiben und setzt den Musical-Stempel darauf.
Driftet man in Kitsch ab, wenn Mozart in Salzburg gespielt wird? Da gibt es Mozartkugeln und so weiter. Sollen die aufhören, Mozart zu machen, nur weil es Mozart ist? Warum sollte Augsburg nicht stolz sein auf Fugger? Ich finde es super – und es gehört hier hin, dass sie etwas über Fugger machen. Augsburg hat die einzigartige Gelegenheit, etwas daraus zu machen, die Fugger-Stadt zu sein. Es ist höchste Zeit, dass sich ein Musiktheater diesem Thema annimmt. Und es war höchste Zeit. Denn ein Stück zu zeigen, das schon in vielen anderen Theatern gelaufen ist, können alle. Aber in Augsburg etwas Neues über Fugger in der Fugger-Stadt zu bringen, finde ich grandios. Und wenn die Zuschauer dabei noch etwas lernen, habe ich überhaupt nichts dagegen. (schmunzelt)

Warum ist es gut, dass es ein Fugger-Musical und keine Fugger-Oper geworden ist? Die Titelrolle in einer Oper hätten Sie ja genauso singen können als ein Künstler, der beide Fächer bedienen kann.
Musical ist die lebendigste Form des Musiktheaters, die wir heute haben. Ich will es mal so porträtieren: Wenn ich jemandem erzähle, dass ich eine Opern-Uraufführung mache, schauen mich die Leute an, als hätte ich gesagt, dass ich zum Zahnarzt muss. (lacht) Aber wenn ich sage, dass ich eine Musical-Uraufführung mache, werde ich wertend gefragt, ob es gut wird. Das zumindest kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Beim Musical fragen mich die Leute: Wird es Hand und Fuß haben? Wird die Musik gut? Wird es schöne Melodien geben? Die Aufnahmefähigkeit des Musicalpublikums ist noch nicht zerstört. Deshalb ist es richtig, dass es ein Musical geworden ist. Und es ist richtiges Musiktheater. Es ist kein Hoch-das-Bein-Tanzmusical, sondern ein großer dramatischer Musicalstoff in der Tradition von Stücken wie „Das Phantom der Oper“ oder „Les Misérables“. An „Herz aus Gold“ wurde sehr intensiv gearbeitet von Andreas Hillger (Text), Stephan Kanyar (Musik) und Holger Hauer (Regie). Ihnen ist es gelungen, ein Stück mit ernstem Bezug zum Stoff zu schaffen. Es wurden keine Karikaturen auf die Bühne gestellt – das wäre billig und leicht gewesen. Musical und Oper sind beides Formen des Musiktheaters. Aber Musical ist nun einmal die lebendigste Form des Musiktheaters. Also ist es auch keine Herabwürdigung, dass „Herz aus Gold“ ein Fugger-Musical und keine Fugger-Oper geworden ist.

Ist es eine Ehre, wenn man eine Rolle in einer Uraufführung kreieren und sogar mit dem Komponisten und Texter zusammenarbeiten zu dürfen?
Ja. Es ist eine einzigartige Ehre und Verantwortung, ein Stück aus der Taufe zu heben. Und es ist eine riesige Freude, mit den eigentlichen Machern zu arbeiten, weil man Dinge auf meine Stimmmöglichkeiten anpassen kann. Ein gutes Beispiel ist Mozarts „Zauberflöte“: Viele der hohen Töne von Tamino wurden auf den Vokal „i“ geschrieben, weil der damalige Tenor das gut konnte. Das belegen Briefe. Das war also nicht, weil Mozart es so wollte, sondern weil der Tenor das gut konnte. Das Stück wurde geschrieben, ist populär geworden und so populär geblieben, dass wir es heute immer noch spielen. Deshalb sehe ich es als Ehre und Freude, mit dem Autorenteam arbeiten zu dürfen.

(Foto: Dominik Lapp)

Mit dem Regisseur Holger Hauer haben Sie nicht zum ersten Mal gearbeitet. Schon bei der Uraufführung von „Friedrich“ in Potsdam haben Sie gemeinsam eine starke historische Persönlichkeit geformt. Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden aus, was die Entwicklung einer Rolle anbelangt?
Die Zusammenarbeit mit Holger Hauer ist wunderbar. Wir kommen sofort in den Dialog und es geht direkt um handfeste spielbare Situationen und nicht um irgendwelchen Quatsch. Er ist ein Kollege und wunderbarer Regisseur, der ein Auge fürs Mögliche und Funktionierende hat. Das finde ich gut, weil wir immer auf einer Linie sind. Das macht mir immer sehr viel Spaß, da ich Praktiker auf der Bühne liebe. Ich mag Leute, die wissen, was sie wollen und wissen, wohin eine Inszenierung gehen soll. Bei Holger ist es so, dass er genau weiß, was er will, aber auch offen ist für meine Vorschläge. Er bringt seine Sachen an den Tisch, ich bringe meine Sachen an den Tisch und wir decken ihn dann gemeinsam reichlich für das Publikum.

Wie haben Sie sich auf die Rolle des Jakob Fugger vorbereitet? In Augsburg sind Sie ja am Originalschauplatz, konnten also sicher intensiv recherchieren.
Das stimmt. Ich habe mich sehr intensiv darauf vorbereitet, drei Biografien gelesen und mich mit meiner Frau ausgetauscht, die Historikerin ist. Ich habe mich vor Ort mit den Fuggern unterhalten, historische Stätten besucht und ungefähr zweieinhalb Monate vor Probenbeginn angefangen, alles zu studieren und die Musik zu lernen. Ich möchte mit einem intelligenten Publikum einen guten Abend erleben. Alles andere ist nicht mein Ding.

Dann muss Ihr Tag doch eigentlich 48 Stunden haben, oder? Sie haben Frau und Familie, sind sehr viel unterwegs, spielen mehrere Engagements, manchmal sogar parallel. Sie müssen Rollen lernen, haben ein riesiges Repertoire und dann nehmen Sie sich noch zweieinhalb Monate Zeit, um sich intensiv auf eine neue Rolle vorzubereiten. Das ist ja Wahnsinn.
Na ja, man muss die Zeit nutzen. Planung ist alles.

Und Schlaf wird sowieso überbewertet.
Ja. (lacht) Ich sehe es so: Es ist ein Segen, das machen zu dürfen, was man gerne macht. Und ich mache das einfach gerne. Darum fällt es mir leicht. Natürlich muss ich mir die Zeit nehmen, auch wenn es mir leichtfällt. Aber ich fühle eine große Verantwortung gegenüber dem Abend, der Vorstellung und dem Publikum. Ich möchte, dass das Publikum weiß: Wo Chris Murray draufsteht, ist auch Chris Murray drin. Also beschäftige ich mich intensiv damit.

In den Orten, in denen Sie spielen, sind Sie – wenn man Ihre Fotos auf Facebook sieht – anscheinend sehr gern unterwegs, auch schon mal zu nachtschlafender Stunde, um Sehenswürdigkeiten und historische Gemäuer zu erkunden. Woher kommt das Interesse?
Es ist ein Interesse an den Spuren, die wir hinterlassen. Ich finde es faszinierend, wie viele Milliarden Menschen schon da waren und wieder weg sind. Ich finde es faszinierend, die Spuren der Menschheit zu erkunden. Menschen und ihre Werke faszinieren mich. Deswegen bin ich unendlich neugierig auf die Welt und darauf, was die Welt vor mir verbirgt.

Chris Murray (Foto: Dominik Lapp)

Eine große Person der Geschichte, die ebenfalls Spuren hinterlassen hat, durften Sie ja auch schon auf der Musicalbühne spielen: Friedrich der Große. Wie beschreiben Sie Ihr Verhältnis zu ihm?
Ich kannte Friedrich natürlich von der Volksmeinung her: Der alte Mann mit dem Hut und den Glubschaugen. (lacht) Da ich in Berlin lebe, habe ich Friedrich auch immer positiv wahrgenommen, weil er dort einfach präsent ist und zum Beispiel die Staatsoper Unter den Linden erbauen ließ. Und der Eintritt in die Oper war kostenlos, weil er der Meinung war, dass die Leute Kultur brauchten. Als ich später dann für die Rolle recherchierte, war ich aber doch recht erstaunt, dass er auch zahlreiche Bände Poesie, Opern und Sinfonien geschrieben hat. Friedrich hat in seinem Leben eine große Wandlung durchgemacht, was ich wirklich interessant finde. Während meiner Vorbereitungen habe ich diesen Herrscher als unglaublich komplexe Persönlichkeit kennen gelernt. Und was mich auch fasziniert: Ich habe noch nie eine Musicalfigur gespielt, die 800 Meter von meiner Wohnung entfernt geboren wurde. Denn ich wohne ja in Berlin-Charlottenburg und Friedrich wurde dort geboren.

Also war für Sie die Rolle von Friedrich nicht eine Rolle von vielen, sondern eine ganz besondere?
Ja, auf jeden Fall. Es wäre ein Unding, diese Rolle in meinem Kopf zu trivialisieren. Denn dann hätte ich Friedrich nicht als wahren Menschen und integre Person auf der Bühne darstellen können. Das ist eine unglaubliche Herausforderung – gerade auch damals in Potsdam am Originalschauplatz.

Lassen Sie mich raten: Ihre Frau als Historikerin hat Sie damals beim Rollenstudium sicher sehr unterstützt.
Aber hallo! Ich habe einfach das unglaubliche Glück und den Segen, dass meine Frau Historikerin ist. Sie hat mich sozusagen in die richtige Richtung gelenkt. Und ich wäre doch bekloppt, wenn ich nicht auf einen Profi wie sie hören würde. So habe ich beispielsweise erfahren, dass es verschiedene Sichtweisen auf Friedrich den Großen gibt, die immer abhängig von der jeweiligen Nationalität sind. Man denkt also in Polen oder Großbritannien ganz anders über Friedrich als in Deutschland.

Warum war Friedrich als Musicalrolle so interessant für Sie?
Weil Friedrich eine so vielschichtige Person war. Und es galt, diese vielschichtige Person dem Publikum nahezubringen. Ich wollte dem Publikum zeigen, dass Friedrich nicht nur König von Preußen war, sondern auch Flöte spielen konnte, Sinfonien geschrieben und die Folter abgeschafft hat. Das macht ihn so interessant. Und meine Aufgabe war es, wie ich es immer als meine Aufgabe sehe, eine historische Persönlichkeit dem Publikum zu vermitteln.

Hatten Sie dabei denn auch die Möglichkeit, eigene Ideen in die Rolleninterpretation einfließen zu lassen?
Ja, hatte ich. Ich bin der Meinung, dass ich dafür bezahlt werde, mir zu meiner Rolle eigene Gedanken zu machen. Ich werde nicht dafür engagiert, um langweilig zu sein und mich in ein starres Regiekonzept pressen zu lassen. Es war also so, dass ich mich wieder mal mit dem Regisseur Holger Hauer an einen Tisch gesetzt habe, um unsere Karten zu mischen.

Chris Murray und Holger Hauer (Foto: Dominik Lapp)

Sind Sie letztendlich immer froh, in einem Musical mit historischem Thema mitwirken zu können – sozusagen also in einem konventionell inszenierten Kostümschinken?
Jaaa!

Also sind Sie gegen verfremdete Inszenierungen des deutschen Regietheaters?
Nein, darum geht es gar nicht. Aber ich bin der Meinung, die Zuschauer müssen das geboten bekommen, wofür sie bezahlt haben. Wenn ich ins Programmkino gehe, möchte ich auch einen Programmkinofilm sehen. Wenn ich aber in einen Blockbuster gehe, möchte ich einen Blockbuster sehen. Das heißt ja nicht, dass das eine besser oder schlechter ist. Es ist lediglich etwas anderes. Ich finde nur, die Leute sollen verdammt noch mal ihren Schokoladenkuchen bekommen, wenn sie einen Schokoladenkuchen bestellt haben. Was an Theatern oftmals stattfindet, ist Publikumsverachtung. Da hat das Publikum den Schokoladenkuchen bestellt, bekommt vom Theater aber stattdessen einen großen gekochten Schinken serviert. Und das Publikum muss es mögen. Diese Denkweise finde ich falsch.

Ein erfolgreiches Musical, in dem Sie mehrere Jahre in Pforzheim gespielt haben, war Frank Wildhorns „Dracula“. Warum war das dort so enorm erfolgreich?
Ich glaube, das war ein glückliches Zusammentreffen vieler Faktoren. Besonders die kongeniale, unglaublich clevere Regie von Wolf Widder. Ich habe gleich zu Beginn der Proben mit ihm darüber gesprochen, dass ich nicht mit weißen Haaren und Akzent auf die Bühne gehen will. Das war mir zu plump. Deshalb haben wir uns etwas Besonderes überlegt, nämlich den Gang von Dracula, wenn er Gäste empfängt. Den haben wir uns vom traditionellen japanischen No-Theater abgeschaut. Dabei glitt ich auf den Fersen, die Füße verlieren den Kontakt mit dem Fußboden nicht und ich bewege mich sanft und geschmeidig, schwebe geradezu über den Boden. Das machte die Szene sehr cool. Ich finde, solche Details in der Inszenierung waren mitverantwortlich für den Erfolg des Stücks.

Es ist aber auch eine hervorragende Cast gewesen, mit der ich in Pforzheim zusammenarbeiten durfte. Und ein exzellentes Orchester unter der Leitung von Tobias Leppert. Dazu kamen die sehr traditionellen, zeitgebundenen Kostüme, die den Glaubenssprung des Publikums leichter machten. Außerdem ließ das Bühnenbild viel Freiraum für die eigene Fantasie. Es waren keine riesigen Kulissen, aber tolle Andeutungen. Und es gab wunderbare Effekte, wo ich über der Bühne agieren konnte. Einfach eine sehr aufregende Inszenierung. Und dieses Zusammentreffen vieler Faktoren hat wohl den Erfolg des Stücks ausgemacht.

Was ist Dracula für ein Charakter? Bram Stokers Schreckgespenst oder doch eher ein Typ mit harter Schale und weichem Kern?
Bei der literarischen Vorlage von Bram Stoker ist der Mythos Dracula meiner Meinung nach nur in Ansätzen vorhanden. Die Buchautoren des Musicals, Christopher Hampton und Don Black, haben Dracula menschlicher gemacht. Er ist auf der Suche nach neuem Weideland, begegnet dann aber Mina und lernt die Kraft der Liebe kennen. Und deshalb gibt er Mina auch frei. Denn wenn er sie unsterblich machen würde, würde er sie ja in seine Welt holen, die geprägt ist von Blut und Hass. Aber er möchte, dass sie in ihrer schönen Welt bleibt. Der Dracula im Musical ist ein leidenschaftliches aber fühlendes Raubtier, das die Liebe entdeckt. Daraus zieht er ganz harte Konsequenzen.

Wie haben Sie sich auf diesen Charakter vorbereitet?
Ich hatte das Buch schon gelesen, als ich die Europapremiere in St. Gallen gespielt habe, wo man mich als Van Helsing sehen konnte. In Pforzheim habe ich mich sehr intensiv mit der Figur Dracula beschäftigt und mit der Erwartungshaltung des Publikums. Ich habe mich nach verschiedenen Dracula-Bearbeitungen umgesehen und geschaut, wie das Thema jeweils integriert wurde. Denn ich wollte einen glaubhaften, nachvollziehbaren Charakter für Dracula schaffen. Im Endeffekt konnte ich ihn nicht neu erfinden, aber es zumindest beeinflussen, dass er integer daherkommt. Ich wollte nie einen Dracula spielen, sondern einen Mann, der erkennt, dass er den Menschen überlegen ist. Dracula ist ja nicht böse. Er kommt zu dir und schenkt dir das ewige Leben.

Was war für Sie die Herausforderung, diese Rolle so lange Zeit zu spielen?
Die Herausforderung war, meine Leistung über Jahre auf einem gleichbleibend hohen Niveau zu halten. Der Erfolg meiner Leistung lag mir dabei immer im Nacken. Die Leute kamen aus ganz Deutschland, aus Österreich, aus der Schweiz – sogar mit Leuten aus Finnland habe ich am Bühneneingang gesprochen. Und alle haben mir gesagt, wie toll sie es fanden. Davor hatte ich riesigen Respekt und deshalb habe ich gearbeitet wie doof, damit jede Vorstellung so gut wie nur möglich werden konnte. Es war schon sehr viel Druck, dem ich mich sehr gern hingegeben habe. Es ist schließlich toll, Teil solch einer Erfolgsproduktion zu sein. Aber von nichts kommt eine ganze Menge gar nichts. Die Rolle ist anspruchsvoll, hat viel zu singen und ich habe keine hohen Töne ausgelassen, ich habe keine Effekte ausgelassen, es wurde nirgendwo gemogelt. Ich musste mein Gewicht halten, habe immer mit Vampirzähnen im Mund gesungen. Das waren viele Herausforderungen, denen ich mich gestellt habe. Und das war eine ganz tolle Reise.

(Foto: Dominik Lapp)

Reise ist ein gutes Stichwort. Sie müssen berufsbedingt ja auch viel reisen. Setzt Sie das zusätzlich unter Druck? Vor der letzten „Dracula“-Vorstellung haben Sie zum Beispiel im Zug festgesessen, mussten aber ins Theater.
In meinem Beruf muss man unglaublich gute Nerven haben. Gerade mit der Deutschen Bahn habe ich das sehr oft geübt. (lacht) Mal ist der Zug liegengeblieben, dann ist mir der Anschlusszug vor der Nase weggefahren. Da muss man ein gutes Nervenkostüm haben. Und das habe ich zum Glück.

Oftmals wird vergessen, dass Künstler von ihrer Kunst auch leben müssen. Nun wird an kleineren Theatern in der Regel aber schlechter bezahlt als an großen Häusern. Ist man als Künstler dann nicht auch hin- und hergerissen zwischen einer Rolle, die man unbedingt spielen möchte und den damit verbundenen finanziellen Aspekten?
In Pforzheim zahlen sie ganz normal für ein Stadttheater dieser Größe. Ich habe aber auch schon mal ein Angebot gehabt für ein dreimonatiges Engagement, das künstlerisch äußerst interessant war, das ich aber absagen musste, weil es finanziell überhaupt nicht machbar war. Die Gage war niedrig, eine Wohnung wurde nicht gestellt und ich hätte sehr weite An- und Abreisewege gehabt. Solche Angebote muss man dann schweren Herzens ablehnen, weil man vom Applaus nicht seine Miete bezahlen kann. Das ist einfach so.

Wie wichtig ist in diesem Hinblick die Initiative „art but fair“?
Die ist super! Finde ich klasse. Denn „art but fair“ macht eigentlich das, was die Bühnengenossenschaft GDBA nicht macht. Mein Vater, selber Opernsänger, war ein Leben lang in der GDBA. Und ehrlich gesagt, schlafen die da. Die schnarchen vor sich hin und tun nichts. Für das Einstiegsgehalt, das Schauspieler am Stadttheater bekommen, würde man in anderen Berufen morgens gar nicht aufstehen. Deshalb finde ich „art but fair“ super. Künstler sind oftmals hilflos, weil sie ja „nur“ spielen und die ganze Macht bei der Intendanz liegt. Und es gibt keinen autoritärer geführten Schuppen als ein Theater. Die virtuelle Faust wird zwar immer gern gereckt, aber die Künstler haben nichts zu sagen. Null. Zero. Auf Gedeih und Verderb sind Künstler von der Theaterleitung abhängig, und deshalb kann es sich niemand leisten, dort aufzumucken. Es sei denn, dir sind deine Jobs egal und du hast einen Partner, der genug Geld verdient. Natürlich sollte man sich auch nicht gegen seine eigenen Leute wenden. Klar, das ist unklug. Aber gerade deshalb braucht man Gewerkschaften oder Initiativen wie „art but fair“, die sich für die Belange von Künstlern einsetzen.

Es gibt in Deutschland Theater- und Opernintendanten, die pro Jahr zwischen 100.000 und 300.000 Euro einstreichen. Das Einstiegsgehalt für Schauspieler liegt dagegen bei knapp über 20.000 Euro im Jahr. Wer als Schauspieler monatlich zwischen 3.000 und 4.000 Euro verdient, gilt schon als Gutverdiener. Das ist schon ein krasser Unterschied.
Das ist unfassbar. Ich habe einmal eine Produktion an einem großen Theater gespielt, da hat ein Kollege von mir, der neben mir eine Hauptrolle spielte, zwischen 200 und 300 Euro für eine Vorstellung bekommen (Anmerkung: keine Ensuite-Produktion, nur wenige Vorstellungen pro Monat). Und er ist davon ausgegangen, dass das eine gute Gage sei für ihn als Schauspieler. Da bin ich fast vom Stuhl gefallen, denn davon kann doch keiner leben. Ich bin zum Glück nicht in dieser Situation, aber ich finde es einfach nur traurig. Mein Herz geht auf für die Leute, die einen schwereren Weg gehen als ich. Ich bin auch mal dort gewesen und bin mir dessen sehr bewusst. Ein Theater ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor für eine Stadt, denn auch Hotels und Gastronomie profitieren davon. Ein Theater erzeugt eine riesige Synergie und wertet das Profil einer Stadt enorm auf – aber die Künstler werden dann zum Teil so miserabel bezahlt. Ich war in vielen kleineren Städten auf Tournee. In Städten, die früher mal Theater mit eigenen Ensembles hatten, die aufgelöst wurden. Diese Städte sind tot. Es passiert dort nichts mehr. Und das Theatersterben ist ein Armutszeugnis für eine Stadt. Deshalb ist es ganz wichtig, dass man diese Situation nicht nur auf das Gehalt eines einzelnen reduziert, sondern auch das gesamte Umfeld betrachtet.

Chris Murray (Foto: Dominik Lapp)

Sie kommen aus einer Opernfamilie. Neben dem Musical haben Sie selbst auch schon in der Oper gesungen. Wann folgt der komplette Wechsel ins Opernfach?
Gar nicht. Ich bin genau da, wo ich sein möchte. Ich bin in der lebendigsten Form des Musiktheaters, die auf diesem Planeten existiert. Wir haben alles im Musical: Herzschmerz, Drama, fröhliche Komödie, Musik von Rock bis Klassik. In meinem Repertoire habe ich eine sehr große Bandbreite, da ist alles dabei. Aber die Oper reizt mich trotzdem, weil es in diesem Genre sehr gute Stoffe und unfassbar schöne Musik gibt. Das Fach wechseln möchte ich auf keinen Fall, weil ich total glücklich bin. Aber neben dem Musical auch Oper machen, das möchte ich gern. Da müssen nur Angebote kommen. Wegen Terminkonflikten musste ich schon Opernengagements ablehnen. Aber vielleicht kommt da ja mal wieder etwas Klassisches. Ich hoffe es, denn Musical und Oper sind Musiktheater. Alles, was es voneinander trennt, ist der Musikstil.

Und Opern werden meist wesentlich moderner inszeniert als Musicals.
Ja, weil die Oper ein totes Genre ist.

Wie bitte?
Die Oper hat das große Problem, dass kaum noch Stücke geschrieben werden, die einen interessieren. Da werden jetzt sicher einige aufstehen und mit brennenden Haaren im Zimmer umherlaufen, weil ich das so drastisch ausdrücke. Aber ich bin im Operngeschäft aufgewachsen. Es gibt keine Arie, die du auf ein Arienalbum setzen kannst, die nach 1927 geschrieben wurde, die als Opernarie gilt und irgendjemanden interessiert. Da muss man schon mit Leonard Bernstein oder mit Benjamin Brittens “Peter Grimes” kommen. Das war’s dann aber auch.

Und was bleibt von der Oper?
Ich fürchte, nicht so wahnsinnig viel – insbesondere nicht von den Opern der letzten 60 Jahre. Die Zeit wird es aussortieren. Musicals sind meiner Meinung nach die Opern unserer Zeit. „Dracula“ ist zum Beispiel ein großes Stück über Liebe und Verzicht. Das ist doch so opernhaft wie es nur geht. Wenn man Oper am Stoff festmachen wollte, dürfte Mozarts „Cosi fan tutte“ nie wieder aufgeführt werden. (lacht)

Ganz unabhängig von Oper und Musical: Was braucht ein Musiktheaterstück?
Gute Musik. Es gibt kein Musiktheaterstück, das ohne gute Musik erfolgreich ist.

Interview: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".